Plädoyer für mehr Ideologiekritik in der Universität
Was ist Ideologie?
Der Begriff der Ideologie (griech. „idea“= Erscheinung und „logos“= Wort) wird sehr uneinheitlich verwendet. In der Alltagssprache wird unter Ideologie meist eines starres, dogmatisches, realitätsverleugnendes Gedankengebäude verstanden. So gesehen sind ideologische Meinungen solche, die sich nicht selbst kritisch hinterfragen und sich selbst setzen. Andere benutzen das Wort Ideologie allgemein für die Werte und Normen, die jeder Mensch hat, um die Wirklichkeit zu verarbeiten. So gesehen wären wir alle Ideologen.
In den Sozial- und Geisteswissenschaften erschien der Begriff erstmals Ende des 18 Jahrhunderts. Damals hatte er noch eine weitgehend neutrale Bedeutung.
Erst mit der Entwicklung der kritischen Gesellschaftstheorie veränderte sich das Konzept der „Ideologie“. Seitdem bezeichnet „Ideologie“ in der kritischen Gesellschaftstheorie vornehmlich diejenigen Gedankengebäude und Überzeugungen, welche die gesellschaftlichen Schieflagen, Ungleichwertigkeiten, Brutalitäten und Zumutungen rechtfertigen, indem sie als vernünftig dargestellt werden und vor allem als unausweichlich erscheinen.
Ein Beispiel hierfür ist die Idee der „Überbevölkerung“, wegen der es notwendig sein soll, dass immer wieder hunderttausende Menschen an Hunger, Krieg und Seuchen sterben „müssen“. Auf den ersten Blick ein vielleicht einsichtiges Argument, da es naturwissenschaftlich anmutet. Auf den zweiten Blick eine zynische Rechtfertigung für den Tod von Menschen, der aus politischen und wirtschaftlichen Gründen hingenommen wird.
Was ist Ideologiekritik?
Die SoziologInnen und PhilosophInnen der „Frankfurter Schule“ und deren VordenkerInnen entwickelten in diesem Sinne im 20 Jahrhundert das Konzept der „Ideologiekritik“ als Antwort auf ihre Versuche, die rasante gesellschaftlichen Veränderung im Zuge der Industrialisierung, des Faschismus und der Epoche der Weltkriege zu begreifen. Dabei wurde versucht zu erklären, warum es den jeweiligen Herrschaftssystemen anscheinend so (relativ) bruchlos gelang, die Menschen unter ihre Kontrolle zu bringen, obwohl die Versprechen der Aufklärung von Vernunft, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Fortschritt und Menschenrechten offensichtlich nicht eingelöst wurden. Im Gegenteil, die industrielle Menschenvernichtung in Nazideutschland, Massenelend, Naturzerstörung, all diese Katastrophen zeugten und zeugen nicht von Vernunft und Fortschritt. Angesichts dieser verrückten Situation folgern sie, dass der moderne Mensch anscheinend nur allzu bereit ist, die Herrschaftsverhältnisse, denen er ausgesetzt ist zu akzeptieren und sogar zu bejahen, da sie als vernünftig erscheinen. Dieses „notwendig falsche Bewusstsein“ resultiert aus der zunehmenden Unfähigkeit des Individuums sich den gesellschaftlichen Verhältnissen zu entziehen. Die Erkenntnis über deren historisches 'geworden sein' erscheint dem Individuum als banal und als Zumutung. Denn sie verändert den alltäglichen Druck, den gesellschaftliche Verhältnisse auf die Einzelnen ausüben nicht unmittelbar. So spielt Ideologie bei der Akzeptanz dieser Verhältnisse eine zentrale Rolle, indem sie die Möglichkeit ihrer Veränderung aus dem Bewusstsein streicht. Sie sorgt dafür, dass die Entwicklung neuer Technologien und der „Fortschritt“ der Wissenschaften zu politische Entscheidungen führen, die sich nur noch an selbstgemachten Sachzwängen orientieren und von daher eine ideologische Wirkung ausüben, die zur Verflachung und Verarmung der öffentlichen politischen Diskussion führt (Jürgen Habermas).
Ideologie ist also eine vereinheitlichende Art und Weise zu denken und die Wirklichkeit so zu bewerten und einzuordnen, dass kein Widerspruch mehr möglich scheint. Wenn sie sich in der Gesellschaft durchsetzt wird sie zu einer Macht, die Wirklichkeit zu erschaffen. Nach Terry Eagleton ist Ideologie in der modernen Gesellschaft ein Mittel zur Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen: Ideologie sorgt dafür, dass ihre Werte und Ideen naturalisiert werden; diese „Naturalisierung“ von Ideen bedeutet, dass die Menschen an bestimmte Ideen so selbstverständlich glauben, als wären es Naturgesetze. Was früher zum Beispiel der Glaube an Gott und den Teufel war, ist heute der Glaube an das sogenannte „Ende der Geschichte“, also die Idee, dass die Marktwirtschaft die einzige Möglichkeit zur gesellschaftlichen Organisierung ist. Außerdem zeichnet Ideologie aus, dass sie konkurrierende Überzeugungen ausschaltet und zensiert. Dies führt auch zu einer Art Selbstzensur: alle Ideen, Infragestellungen und Ziele außerhalb unserer jetzigen Gesellschaft scheinen uns selbst und anderen als abwegig, verrückt und unmachbar.
Eine Möglichkeit, Ideologien zu „entdecken“ ist Ideologie-Kritik. Sie geht davon aus, dass alle gesellschaftlichen Strukturen und Denkweisen (von der Kindererziehung bis zur Wirtschaftsordnung) geworden, also historisch entstanden sind. Als solche sind sie veränderbar. Ideologiekritik fragt nach den unausgesprochenen Prämissen und Vorannahmen einer jeder Weltanschauung.
Was hat das mit der Uni zu tun?
Wenn es wahr ist, dass Wissen momentan zur „Produktivkraft“ wird, dann gilt einmal mehr:
Wissen ist nie neutral. Die Bildung, die wir uns an der Uni aneignen, kann nicht von ihrem späteren Gebrauch, der von ihr gemacht wird, abgetrennt werden. Auch wenn es momentan auch in den Wissenschaften modern ist, sich als ideologiefrei zu präsentieren, gilt es, sich nicht von der Meinung der Mehrheitsgesellschaft irre machen zu lassen, sich nicht einschüchtern zu lassen und sich zu trauen, Widersprüche auszusprechen und die eigene Selbstzensur auszuhebeln, also Ideologiekritik zu üben:
Wem nutzt das Wissen, das wir lernen und produzieren?
Warum sollen wir Universität und Gesellschaft getrennt denken, wo z.B. die Massenmedien, unsere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die Privatisierungen und künstliche Verknappung von gemeinsamen Gütern unmittelbaren Einfluss auf unser Studium haben?
Zielt das, was wir in der Uni lernen wirklich darauf, uns zu mündigen Menschen zu machen und unsere Möglichkeiten zu erhöhen, die Bedingungen unseres Lebens selbst bestimmen zu können?
Was nützt die verbriefte Meinungsfreiheit, wenn die öffentlichen Diskussionen immer einseitiger werden und wir uns selbst nicht mehr trauen eine andere Welt auch nur zu denken?
Was ist das für eine Freiheit in der unser Leben von Institutionen abhängt, auf die wir kaum Einfluss haben (Gesundheit, Ausbildungssystem, Sozial- und Finanzverwaltung, Umgang mit den natürlichen Ressourcen usw.)?
Wie kommt es, dass wir heute technisch in der Lage sind, ungeheure Reichtümer zu produzieren, aber dies nur unter der Bedingung, gleichzeitig die Mehrheit der Menschheit von diesen Reichtümern auszuschließen?
Müssen wir uns wirklich damit abfinden, dass unser späterer Berufserfolg nur gelingen kann, wenn wir erfolgreich in Konkurrenz zu unseren KommilitonInnen treten werden?
Warum müssen wir uns auf ein Leben als flexible Arbeitskräfte mit 50-Stunden-Woche einstellen, wo doch die Bedingungen, nur minimal Arbeiten zu müssen, schon längst gegeben sind?
Welche Bedingungen unseres Lebens sind wirklich Naturgesetze, deren Infragestellen und Veränderung sinnlos wären und welche Bedingungen sind von Menschen durch Ideologien gemacht?
Diese Fragen werden von den Wissenschaften immer mehr ignoriert. Dabei müssten sie im Zentrum der Auseinandersetzung stehen, um den sich rasant verändernden Umständen überhaupt wissenschaftlich gerecht werden, sie zu verstehen und ihnen gemeinsame, emanzipatorische Entwürfe entgegensetzen zu können.
Sich diesen und ähnlichen Fragen zu verweigern ist bereits immer die effizienteste Form von Ideologieproduktion gewesen.