NutzerInnen-Gemeinschaften: Mit Schick, Chance und Methode
www.whopools.net - poolya
Lilli engagiert sich schon seit längerem für und in NutzerInnen-Gemeinschaften. Wir haben sie gebeten, uns ein wenig über diesen gratisökonomischen Ansatz und ihre Erfahrungen damit in Göttingen zu berichten.
Schöner Leben Göttingen (SLG): Bei der Verabredung zu diesem Gespräch hast Du fünf scheinbar wichtige Begriffe genannt: Keimformen, Gratisökonomie, Nutzigem, whopools und poolya. Damit wir den Überblick behalten: Kannst Du bitte zunächst kurz sagen, was sich hinter diesen Begriffen verbirgt?
Lilli: Eine Sache ist schnell erklärt: Nutzigem ist einfach eine Abkürzung für NutzerInnen-Gemeinschaft. In Nutzigems schließen sich Menschen zusammen, um sich Fertigkeiten, das Wissen oder materielle Dinge der Einzelnen gegenseitig zur Verfügung zu stellen. Tausch, Geld oder Gewinn sollen dabei keine Rolle spielen. Vielmehr wird versucht, ohnehin vorhandene Ressourcen direkt zur Bedürfnisbefriedigung zu nutzen. Dazu wird in Nutzigems bekannt gemacht, über welche Ressourcen die Einzelnen verfügen. Wer etwas braucht, kann dann gezielt dort anfragen. Nutzigems sind übrigens, anders als z.B. Familie und Nationalität, Wahlgemeinschaften.
Unter dem Begriff Gratisökonomie werden alle möglichen Ansätze und Projekte zusammengefasst, die nach Wegen suchen, wie ein an Bedürfnissen ausgerichtetes Wirtschaften etabliert werden kann. Bedürfnisorientierung statt Profitorientierung bedeutet in der Konsequenz, auf Geld oder andere Tauschmittel so weit als möglich zu verzichten. Daher der Begriff „Gratis“ökonomie . Es geht um den weitestgehenden Bruch mit unserem bisherigen Wirtschaftssystem, der kapitalistischen Warenökonomie. In Göttingen gibt es eine Reihe von Projekten mit gratisökonomischem Ansatz. Neben den Nutzigems sind das z.B. der Umsonstladen oder die Soli-Küche.
Die Sache mit den Keimformen ist etwas vertrackter. Allgemein werden ja Veränderungen der bestehenden Verhältnisse hin zu einem Leben ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Ausgrenzung, ohne Disziplinierung, Hierarchien und Normzwänge nicht nur in der Ökonomie gesucht. Neben gratisökonomischen Projekten gibt es noch viele andere, in denen Prinzipien des guten Lebens, wie z.B. die Organisierung von Freiräumen, schon heute erprobt werden. Aber auch zu Themen wie Reisen/Bewegung/Aufenthalt oder Identität gibt es Keimformen. Die Erwartung ist, dass solche Keimform-Projekte wachsen können und so dazu beitragen, Gesellschaft im herrschaftskritischen Sinne umzugestalten.
SLG: Sind Keimformen also die passende Antwort auf die aktuelle Krise?
Lilli: Jein. Ja, denn sie können gerade auch in Krisenzeiten konkrete Angebote sein, um mit den teilweise beschissenen Lebensverhältnissen besser bzw. überhaupt zurecht zu kommen. Nein, denn dem momentanen Krisenprozess kann nicht nur mit dem Aufbau neuer Strukturen begegnet werden. Jetzt muss es auch darum gehen, die bei den Menschen vorhandene Wut auf die Straße zu bringen und die immer schon überfällige Umverteilung von oben nach unten voranzubringen. Widerstand erhält und schafft Freiräume – auch für den Aufbau von Keimformen. Was ich aber nochmal zusammen fassen wollte: Nutzigems sind also ein Beispiel für Gratisökonomie-Projekte, die ihrerseits unter gewissen Umständen zu Keimformen für eine emanzipatorische Gesellschaft gezählt werden können. Zu welchen Begriffen sollte ich jetzt noch etwas sagen?
SLG: Whopools und poolya.
Lilli: Ach ja, jetzt wird es praktisch. Die Seite www.whopools.net bietet nämlich die Möglichkeit, sich im Internet zu Nutzigems zusammen zu schließen. Ohne Tausch und auf der Grundlage individueller Vereinbarungen. Die Vorteile dieser internetgestützten NutzerInnen-Gemeinschaften liegen auf der Hand: Der Zugriff auf große Datenbanken und ausführliche Beschreibungen der Dinge, Fertigkeiten usw. sind möglich. Eine praktische Suchefunktion soll einladen, Gratisökonomie attraktiv in den Alltag zu integrieren. Die Software von whopools.net ist übrigens Opensource. Ideengeber und Programmiererinnen werden laufend gesucht, um die Funktionen der Seite gemeinsam weiterzuentwickeln.
SLG: Was muss ich denn machen, wenn ich auf die Seite von whopools.net komme?
Lilli: Die Bedienung der Seite ist mittlerweile recht übersichtlich.Wer sich eingeloggt hat, kann eigene Dinge, Fertigkeiten, Räume und eigenes Wissen in eine persönliche Datenbank eingeben. Mit diesen eigenen Ressourcen im Gepäck kann dann entweder bereits bestehenden Nutzigems beigetreten werden. Oder es lassen sich bei whopools.net auch ganz einfach neue Nutzigems gründen. Eine Suchfunktion macht dann möglich, um was es bei Nutzigems geht: Bei Bedarf benötigte Dinge, Fertigkeiten, Wissen usw. in den Ressourcen-Pools der Nutzigems finden, um dann bei der jeweiligen Nutzi direkt über die Software, per Mail oder Telefon anfragen zu können.
SLG: Eine Zwischenfrage: Das geht einfach so? Ich frage und dann bekomme ich, was ich gerade haben möchte?
Lilli: Nicht ganz. Denn Nutzigems basieren auf dem Prinzip, dass letztlich immer zwei Personen die genauen Umstände ihrer Kooperation verhandeln. Prinzipien wie Freiwilligkeit und Selbstbestimmung sind da ganz wichtig. Ressource anbietende und suchende Person müssen sich bei jeder Anfrage schon unmittelbar einigen. Wie lange wird die Ressource zur Verfügung gestellt bzw. ausgeliehen? Was muss die anfragende Person beisteuern, wenn sie die Ressource effektiv nutzen möchte? Solche Absprachen sind insbesondere wichtig, wenn die Ressourcen-Verfügerin sich noch absichern möchte, d.h. nicht bedingungslos gleich allen alles zur Verfügung stellt. Und der Nutzer ist gefordert, mit den ihm anvertrauten Ressourcen verantwortungsvoll umzugehen und getroffene Absprachen verbindlich einzuhalten.
SLG: Was sind denn das für Nutzigems, die sich bei whopools.net organisieren?
Lilli: Bei whopools.net sind bereits zahlreiche öffentliche Nutzigems im Aufbau, aber auch solche, wo eine Teilnahme erst angefragt werden muss. Es finden sich Nutzigems mit regionaler Begrenzung, überregionaler Vernetzung oder auch für spezielle Ressourcen. Beispiele sind dezentrale Bibliotheken/ Mediatheken, die aber trotzdem räumlich beschränkt sind, so z.B. auf Osnabrück oder Trier/Koblenz. Automatisch ist jeder und jede, die sich bei whopools.net anmeldet, Mitglied in der Gesamt-Nutzigem. Wer möchte, findet in Münster oder Braunschweig Übernachtungsmöglichkeiten. Jemand bietet jede Art von Handwerk an, ein anderer die kurzfristige Pflege behinderter Menschen. Lernen lässt sich, Eiskrem herzustellen, Bücher zu binden oder zu verstehen, „was die Ärzte eigentlich sagen wollen“.
SLG: Da braucht es sicherlich ganz schön Phantasie, um überhaupt herauszubekommen, was meine persönlichen Ressourcen sind, die andere interessieren könnten.
Lilli: Nutzigem-Neulinge sind bei der Zusammenstellung ihrer Ressourcen-Datenbank tatsächlich oft noch von den herrschenden Zuständen betäubt. Anfangs fehlt der Blick dafür, was sich für andere als Ressource erweisen könnte. Bücher, CDs, Fahrradtaschen und der Wok sind schnell aufgelistet. Doch könnte nicht auch der Laptop, das Auto oder der Werkzeugkeller zeitweilig zur Verfügung gestellt werden? Und was ist mit den Fertigkeiten, gut Chemie-Schulstoff erklären, für 40 Leute leckeres Essen kochen, komplizierte Behördenschreiben verstehen oder schrottige Fahrräder reparieren zu können? Und könnte die reine Körperkraft – beispielsweise für Umzüge – für manche nicht auch interessant sein? Vielleicht soll eine Showeinlage für ein Fest vorbereitet oder ein Kirschbaum gepflanzt werden... Ich selbst habe da einfach ein paar FreundInnen gefragt, welche Ressourcen sie bei mir sehen.
SLG: So hört sich die Zusammenstellung der eigenen Ressourcen ganz leicht an. Irgendwo zwischen Detektivarbeit und Selbstreflexion.
Lilli: Tja, der Ressourcenpool einer Nutzigem wird allerdings nicht von allein größer. Vorausgesetzt ist immer die Bereitschaft der teilnehmenden NutzerInnen, etwas von ihren zunächst persönlichen Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Das betrifft auch Dinge, die viel Geld kosten. Hier muss jede und jeder einfach selbst abwägen. Die Vielfalt der angebotenen Ressourcen in einer Nutzigem resultiert letztlich daraus, dass diese zwar von einzelnen Nutzis beherbergt werden. Sie werden aber nicht unnötig privatisiert, da sie ja auch für andere zugänglich und verfügbar gehalten werden. Erwirbt oder lernt eine Nutzerin etwas neu, verschwindet das nicht hinter ihrer Wohnungstür oder in ihrem Kopf. Einmal in die Internet gestützte Datenbank aufgenommen, sind diese Ressourcen für die anderen Nutzer und Nutzerinnen nur einen Mouse-Klick und Telefonanruf entfernt.
SLG: Um das mit den Begriffen nochmal abzuschließen: Was ist denn nun poolya?
Lilli: Hier in Göttingen sind bereits mehrere Nutzigems, die sich über whopools.net organisieren. Eine, die gern wachsen möchte, ist poolya.gö. Kann ich zum Mitmachen nur empfehlen!
SLG: Du hast vorhin ganz selbstverständlich davon gesprochen, dass bei Gratisökonomie-Projekten oder allgemein Keimformen ein Bruch mit dem Kapitalismus gesucht wird. In diesem Zusammenhang solle auf Geld oder andere Tauschmittel verzichtet werden. Kannst Du dazu noch was sagen?
Lilli: Dazu gibt es ja viele Meter Literatur. Auf eine lesenswerte Broschüre möchte ich hier aber hinweisen: „Herrschaftsfrei wirtschaften“ aus der Heftreihe „fragend voran...“. Gibt’s selbstverständlich im Roten Buchladen zu kaufen – oder in der Präsenzbibliothek im Autonomicum zu lesen, dem Freiraumcafé im Blauen Turm. So, jetzt ist der Werbeblock vorbei. Der Kapitalismus hat unbestritten gegenüber Wirtschaftsformen wie Sklaverei erhebliche Vorteile. Aber die Aufgabe, allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen, indem sie über ihre Lebensbedingungen selbst verfügen, ist mit diesem System offenbar nicht lösbar. Das kann theoretisch gezeigt werden, da z.B. Abhängigkeit, Ausbeutung, Konkurrenz, Zwänge, Krisen, Gewalt usw. zum Kapitalismus unweigerlich dazu gehören. Das sind alles keine schönen Sachen. Die Probleme mit dem Kapitalismus sind aber auch im Alltag unübersehbar: Lebensmittel werden vernichtet, während täglich zehntausende Menschen verhungern. Häuser stehen leer und Fabriken verloddern ungenutzt, während Menschen obdachlos sind oder als Arbeitslose mit ALG II am Existenzminimum gegängelt werden. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, gesamtgesellschaftlich vorhandene Ressourcen unproblematisch und effektiv für bedürftige Menschen zur Verfügung zu stellen. Denn das ist auch gar nicht sein Zweck. Im Kapitalismus geht es darum – mal vereinfacht gesagt – aus Geld mehr Geld zu machen. Dinge werden als Waren vornehmlich für den Profit bringenden Tausch produziert. Auch Dienstleistungen, Ideen, Leben usw. werden als Waren gehandelt. Genau an diesem Punkt setzen Nutzigems an, wenn sie ein Wirtschaften jenseits der Logik „Du bekommst nur von mir, wenn ich angemessen von Dir bekomme“ anbieten.
SLG: Noch einmal zurück zu den Nutzigems bei whopools.net. Wie sieht denn das nun konkret aus? Machen da viele Leute mit, werden die Ressourcen-Pools wirklich genutzt?
Lilli: Momentan habe ich den Eindruck, dass es noch etwas mau aussieht. Sowohl was die Anzahl der Leute angeht, als auch die Zahl der angefragten Nutzungen.
SLG: Woran liegt das Deiner Meinung nach?
Lilli: Bei mir ist es z.B. so, dass der bekannte Weg über meinen Freundeskreis in den meisten Fällen noch erfolgreich genug ist, wenn es darum geht, benötigte Ressourcen schnell und zuverlässig zu organisieren. Das ist aber alles eine Frage der Umstände: „Wie privilegiert bin ich, über welche Ressourcen kann ich persönlich oder im Freundeskreis verfügen? Und wie sehr will oder muss ich mich in gatisökonomischen Strukturen bewegen?“ Hinzu kommt, dass es immer einen sozialen Kraftaufwand bedeutet, Kontakt zu einer möglicherweise fremden Person aufzunehmen und Unterstützung anzufragen. Ich empfand diesen Punkt jedenfalls als kleine Herausforderung, als ich mit Nutzigems angefangen habe. Aber solche Hürden gehören dazu. Nutzigems, als Keimformen betrieben, sind eben ein Lernfeld.
SLG: Wie kann es denn nun weitergehen?
Lilli: Zunächst braucht es wohl die Kraft einer Kampagne, um die Nutzigem-Idee zu verbreiten. Erst wenn mehr Menschen mitmachen und die Ressourcen-Pools wirklich groß sind, kann whopools.net zu einer Art Alltagswerkzeug werden. Und erst dann können wir sehen, was Nutzigems wirklich zum Aufbau gratisökonomischer Strukturen beitragen können. Ich hoffe ja sehr, dass dann über whopools.net auch Bedürfnisse bedient werden können, die eine komplexere Koordination von Ressourcen erfordern. Es stellt sich ja z.B. die Frage, wie mittelfristig auch so etwas wie Maschinen zum Produzieren in Ressourcen-Pools zur Verfügung gestellt werden können. Denkbar wäre ja z.B. die Nutzung von Werkstätten, Bäckereien und Großküchen an Wochenenden. Ich sehe da im Nutzigem-Konzept die Möglichkeit angelegt, kleinschrittig und für die Beteiligten kontrollierbar vorzugehen. Und Dienstleistungen und Wissen sind geradezu dafür gemacht, sie in Nutzigems zur Verfügung zu stellen. Mit jedem in gratisökonomischen Netzwerken befriedigten Bedürfnis sinkt dann ja die Abhängigkeit von der kapitalistischen Warenökonomie. Damit könnte sich ganz allmählich die Verhandlungsmacht der Lohnabhängigen vergrößern und weitere Umverteilung zugunsten von Nutzungsgemeinschaften wäre möglich.
SLG: Entschuldige die direkte Frage. Aber ist das nicht ziemlich unrealistisch, was Du da gerade erzählst?
Lilli: Nicht ganz. Ich wollte vor allem mal andeuten, was prinzipiell möglich ist. Hier geht es ja nicht um ein Hobby oder so, sondern um einen Beitrag, unsere Lebensbedingungen konkret zu verbessern. Und für mich sind Nutzigems ganz klar ein politisches Projekt. Da braucht es ja bekanntlich einen langen Atem und den gewissen utopischen Überschuss.
SLG: O.k. Gehen wir mal davon aus, dass Nutzigems wirklich wachsen. Wie ist das dann mit dem Friseurladen, dem die Kundinnen und Kunden ausbleiben? Oder was ist mit der Pflege? Da lacht sich der Staat doch ins Fäustchen, wenn auf Initiative eines linken Projekts die reproduktiven Tätigkeiten wie Erziehung, Pflege usw. ehrenamtlich erledigt werden.
Lilli: Mir ist schon klar, dass durch wachsende gratisökonomische Strukturen letztlich Arbeitsplätze gefährdet sein können. Das ist auf gesellschaftlichem Niveau ja so gewollt, auch wenn es individuell ganz klar eine Bedrohung darstellt – zumindest zunächst. Und richtig, der Staat ist schon immer auf unbezahlte Tätigkeit wie Haushaltsführung, Kindererziehung, Ehrenamt im Sportverein usw. angewiesen. Für das Nutzigem-Projekt ist es daher wichtig, nicht nur eine entlastende Lösung für den Alltag anbieten zu wollen – auch wenn im Mittelpunkt die Bedürfnisse der Menschen stehen sollen. Genauso kommt es darauf an, um die Nutzigem-Idee als Teil eines emanzipatorischen Umwälzungsprozesses zu ringen. Kampflos wird sich Gratisökonomie letztlich nicht durchsetzen lassen. Und wer weiß schon, welche Bedeutung sich zuspitzende gesellschaftliche Zumutungen, Bedrohungen und Ausschlüsse auf der einen Seite und die Antwort sozialer Bewegungen auf der anderen Seite haben für das Wachsen gratisökonomischer Strukturen. Whopools jedenfalls steht in den Startlöchern.
SLG: Dann dürfen wir gespannt sein, wie es mit NutzerInnen-Gemeinschaften in Göttingen weitergeht. Vielen Dank für das Gespräch.
Lilli: Gerne.