Basisdemokratisches Bündnis:

Ihr könnt uns nicht umbringen - wir sind schon tot!

Spruch der Aufständischen in Kabylie, Frühjahr 2001

31. Dezember 2008, Marseille: Drei Jugendliche (im Alter von 16 bis 20 Jahren) versuchen eine Postfiliale zu überfallen. Die Polizei greift ein, einer der Jugendlichen wird niedergeschlagen. Keinerlei Reaktion, ein paar Kurzmeldungen, und am nächsten Tag ist diese “Meldung” vergessen.

Nur ein paar hundert Euro waren in dieser Filiale zu holen. Vielleicht um sich ein Neujahrsessen leisten zu können. Die Zahl der Überfälle ist im Jahr 2008 im gesamten französischen Territorium gestiegen, meistens handelt es sich dabei um kleinere Beträge. Kleine Banden schließen sich zusammen, in der Regel unerfahrene Jugendliche, und greifen nahegelegene Geschäfte an (Bäcker, Service-Stationen, Postfilialen...) um den Betrag einer monatlichen Sozialhilfe zu erbeuten. Der Staatsanwalt in Marseille erklärte zum Überfall am 31. Dezember:

In diesen Feiertagen sind wir mit einer überraschenden mit einem überraschenden Anstieg [der Überfälle] konfrontiert. Selbst wenn der Danton-Plan, anti-hold-up, eingesetzt wird, ist es schwierig eine bestimmte Kategorie von Übeltätern davon abzuhalten, oft kleine aber entschlossene Überfälle zu begehen, die von der Gefahr her schwer einzuschätzen sind.” [La Provence, 1. Januar 2009]

Auch der Markt für harte Drogen befindet sich in einer umfassenden Expansionsbewegung. Der Verkauf von Kannabis reicht nicht mehr aus. Rechnungen werden in den Banlieues bewaffnet reguliert, Preise sinken, es kommt zu einem immer größeren Konsum von Heroin oder Kokain in weiten Teilen der Bevölkerung. Sicherlich auch Auswirkungen der Krise, oder aber das wahre Gesicht des Kapitalismus.

Um eine umfassende Beschreibung geben zu können, müsste man sich auf die Umwälzungen der Klassenverhältnisse in der post-fordistischen kapitalistischen Gesellschaft beziehen, die die Veränderungen des Kapitalismus in den letzten dreißig Jahren maßgeblich beinflusst haben. Es ließen sich auch die unterschiedlichen Auswirkungen der aktuellen Finanzkrise und die Formen des Widerstandes, die ihm entgegengesetzt werden, aufzählen.

Was wir heute sehen, ist die schwindende Anerkennung für die klassischen Repräsentationsorgane wie Gewerkschaften, Linksparteien und ihre unzähligen Organisationen.

Während der Aufstände im Jahr 2005, berichtete niemand aus dem linken Spektrum über den sozialen Charakter und die Politik um die es ging, nicht mal im Ansatz. Man begnügte sich damit, diese als allgemeine Jugendkriminalität abzutun.

Die Renseignements Généraux (Zentraler Nachrichtendienst der Polizei) waren, als einer ihrer Berichte in die Presse gelangte, die ersten, die bestätigten, eine soziale Revolte in diesem Aufstand beobachten zu können.

Es ist die konsequente Ablehnung der Interessensvertretung während der Revolte im November 2005, die dafür sorgte, dass niemand – nicht mal bei den lernenden Politikern – sich die Finger in dem Spiel verbrennen wollte.

Während des Herbstes 2005 haben sich - in Folge des letzten Mordes durch die Polizei - alle Zurückweisungen, alle Frustrationen herauskristallisiert und der Wille, die Lebensverhältnisse der ärmsten Klassen nicht mehr länger erdulden zu wollen.

Die Angriffe auf die Institutionen, die Unternehmen, die Zerstörung dessen, was in unmittelbarer Nähe erscheint (wie Autos auf einem Parkplatz), um sein Viertel zum Kriegsgebiet zu erklären, und die direkten Auseinandersetzungen mit der Polizei sind lediglich Ausdrücke dieses Widerstandes. Niemand konnte so die Revolte vereinnahmen. Die Hardliner konnten nichts tun, als sich wie Feuerwehrleute aufzuspielen und zu versuchen, Brandherde zu löschen. Mit Pinzetten wurden die Gründe für Gewalt herausgepickt aber nur um dann dazu aufzurufen diese zu beenden um wieder ins demokratische Spielchen einzusteigen. Schlechtes Kino in Anbetracht der Not und der Festgefahrenheit der Situation.

Es ist das Moderne an den Aufständen, dass sie den Schwindel der repräsentativen Demokratie begriffen und diesen nicht nachahmten, dass sie kein mythisches Kräfteverhältnis anriefen, dass sie die Kraft selbst geschaffen haben, dass sie selbst diese Kraft waren. Wir können nicht bestreiten, dass der Staat kaum geschwankt hat, selbst wenn die Angst teilweise die Seiten wechselte und auch wenn während der Geschehnisse der Wahlkampf in vollem Gange war.

Heute kann das Kapital keine Verbesserung der Lebensbedingungen mehr versprechen, vielmehr lediglich deren Verschlechterung. Diese Situation ist zentral für die Gründe, für die Entstehung und für die Perspektiven der Widerstandsbewegungen und/oder der Revolten. Auch, weil die traditionellen linken Organisationen die sozialen Auseinandersetzungen nicht mehr beherrschen können.

Während der Streiks der Eisenbahner im Jahr 2007 hat der Staat diese Bewegungen in Bahnen gelenkt, die er selber bestimmte. Eine alte Form gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, der Gewerkschaftsapparat, hat die Mittel der Kommunikation und der Verhandlungen in seiner Hand behalten und ist so mit den neuen sozialen Dynamiken in Konflikt geraten. Wie es die jungen Schaffner der RATP (Pariser Verkehrsbetriebe) ausdrückten: “Wir wollen keinen Streik um dann bloß Merguez (eine Bratwurst) in unserem Depot zu essen”. Und es war der November 2005, der dabei als ein wichtiger Bezugspunkt war. Symptomatisch für diese Epoche, wollten die Gewerkschaften den Streik beenden, noch bevor er tatsächlich angefangen hatte.

Die bloße “Verwaltung der Konflikte” verbirgt noch ein wenig mehr von der Modernität auf Seiten der alten Gewerkschaftsapparate. Der Streik im Oktober hingegen hat auch eine neue Militanz hervorgebracht, neue Formen die die Kämpfe annehmen werden.

Dies wird auch in diesem neuen Zyklus der Kämpfe deutlich werden. Der November 2005 war dabei ein Ausdruck dessen, gerichtet gegen den Staat: Nicht mehr fordern, sondern kämpfen, die eigene Position in der Gesellschaft behaupten. Und damit die eigene Klassenzugehörigkeit. Am Bahnhof von Saint-Lazare entwickelte sich ein monatelanger Streik, mit einer starken Mobilisierung, die nicht auf die Zentralen der Gewerkschaft hörte, als diese sich gegen den Streik aussprachen. Der Vorstand der SNCF (französische Bahngesellschaft) wurde dazu gezwungen die Tore des Bahnhofs zu schließen, worauf der Staatschef der Gewerkschaft aufs Schärfste drohte. Zahlreiche Jugendliche wurden in den letzten Jahren in den Bahnsektor integriert. In Saint-Lazare ist es diese Masse der neuen ArbeiterInnen, die am militantesten ist und für die die Regeln des politischen und gewerkschaftlichen Spielchens keine Selbstverständlichkeiten mehr sind.

Tatsache ist: Um sein Überleben zu sichern, muss das Proletariat in die Offensive gehen. Der Aufstand einer Bewegung gegen das harte Leben auf Guadeloupe, ist die Einsicht darin, dass es für die ehemaligen Kolonien Frankreichs nichts zu gewinnen gibt. Und dass nur ein Arm aus Eisen den Schraubstock lockern kann. Der umfassende Aufstand, der im Dezember über Wochen hinweg in Griechenland tobte, traf auf ein großes Echo, weil er auf die gleichen Ausbeutungsbedingungen abzielte, wie wir sie alle kennen - in den französischen Vorstädten, in den urbanen Zentren, in den Fabriken Europas und in der prekären Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt. Seine Intensität erwuchs nicht aus der Anwesenheit linker oder anarchistischer Gruppierungen, sondern aus der Anerkennung der eigenen Situation und der Weigerung, dass der Staat das Monopol über die Straße und das Monopol der Gewalt für sich beansprucht.

Diese Aufstände sind keine isolierten und vereinzelten Geschehnisse. Sie entsprechen dem aktuellen Zustand der sozialen Kräfteverhältnisse, dem immanenten Widerspruch des Kapitals und seinen Wegen, Klassenkämpfe hervor zu bringen. Diese Bewegungen richten sich gegen die institutionellen Kräfte, den Staat und seine Polizei aber auch gegen die gesamte Vernetzung der sozialen kapitalistischen Verhältnisse. Und faktisch auch gegen die linke Politik, die es nicht verpasst sich neu zu formieren.

In Anbetracht der engen Spielräume, die der Kapitalismus in seiner aktuellen Form lässt, sind diese Bewegungen notwendigerweise Teil der sozialen Landschaft. Die Frage ist, welche Perspektiven sie sich mittels gegenseitiger Anerkennung werden geben können. Jede Intervention von Seiten des Staates unter dem Banner der Repression oder unter dem Banner der alten Sozialpartnerschaft, wird lediglich dafür sorgen, dass die nächste Offensive aufgeschoben wird. Der Staat wird die grundlegenden Ursachen nicht beseitigen. Diese Offensiven werden immer wieder aufgegriffen werden, weil das, was sie bekämpfen auch weiterhin existiert. Die Verhältnisse der kapitalistischen Klasse.


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