Basisdemokratisches Bündnis:

Wo sind die 10.000, wenn ...

Betrachtungen zum Bildungsstreik

Im Juni 2009 fanden in zahlreichen Städten Protestaktionen im Rahmen des „Bundesweiten Bildungsstreiks 2009“ statt. Auch in Göttingen ist im letzten Sommersemester einiges in Bewegung gekommen. Was ist gelaufen, wie ist dies zu bewerten und vor allem: Wie geht’s weiter und wo wollen wir hin? Das sind die Fragen, die es jetzt gemeinsam zu stellen, beantworten und zu erkämpfen gilt.

[Mit ca. 10.000 füllte die Bildungsstreik-Demo 2009 die komplette Göttinger Innenstadt]
Mit ca. 10.000 füllte die Bildungsstreik-Demo 2009 die komplette Göttinger Innenstadt

Schien es noch bis zu Beginn des Jahres so, als würden die Studierenden und Schüler*innen sich in die Reformen und Rahmenvorgaben der Bildungspolitik problemlos einfügen, so haben wir mit den zahlreichen Vollversammlungen und Protestaktionen in den Fächern und auf Uni-Ebene nun die Erfahrung gemacht, dass eine Kollektivierung unserer Probleme und unserer Forderungen uns nicht nur ermutigt und ermuntert, sondern dass sie die einzige Möglichkeit darstellt, tatsächliche Veränderungen in unserem (Studien)-Alltag hin zu einem selbstbestimmten Leben und Lernen herbeizuführen.

Schon im Januar 2009 haben u.a. verschiedene Basisgruppen und spontan entstandene Studierenden-Gruppen verschiedener Fächer angefangen, Konzepte für eine solche Kollektivierung der Studierenden zu entwickeln, deren Umsetzung schließlich in mehreren, aufeinander folgenden Vollversammlungen versucht wurde. Zunächst haben die Studierenden auf den VVs ab dem Mai 2009 angefangen, ihre Probleme zu benennen und auszutauschen und plötzlich haben wir gemerkt, wir sind nicht dazu verdammt, unseren Frust und auch unsere Vorstellungen im stillen Kämmerchen runterzuschlucken.

10.000 Studierende & Schüler*innen waren in Göttingen am 17.06. auf den Straßen. Eine Woche lang fanden Workshops, kreative Aktionen, Demonstrationen, Blockaden statt.

Wir stehen mit unseren Problemen und unserer Kritik nicht alleine!

Auf vielen VVs wurden Arbeitsgruppen gebildet, es wurde versucht, die Probleme zu konkretisieren, Ursachen und Auswirkungen zu bestimmen. Zu erkennen, dass es nötig ist, die Probleme zu politisieren, in einen übergreifenden Zusammenhang zu setzen und unsere Forderungen an die Öffentlichkeit zu tragen.

In den Workshops und Aktionen um die Aktionswoche im Juni haben wir uns inhaltlich und praktisch direkt mit unseren Problemen befasst und uns nicht von vorherein mit bestehenden Zuständen abgefunden. Adressaten für einzelne Punkte wurden ausgemacht und kollektive Lösungsansätze gesucht. Die basisdemokratischen Strukturen der Vollversammlungen waren das entscheidende Moment für die Einbringung der subjektiven Orientierung in einen kollektiven Zusammenhang.

Doch wo sind die 10.000, heute? Wo sind die 10.000 wenn wir vereinzelt in den Seminaren sitzen und uns bis spät in die Nacht den Lernstoff reinprügeln? Oder wenn wir Angst vor der nächsten Prüfung haben? Wenn unnütze, bürokratische Prüfungsvorschriften unser Studium in Gefahr bringen?

Wir müssen uns überlegen: welche Instrumente, Interventionsmittel und Aktionsformen standen uns zur Verfügung und wie haben wir sie genutzt?

Leider stand der Eventcharakter der Aktionswoche zu stark im Vordergrund. Es ist weder gelungen, eine tragfähige, starke Bewegung in Gang zu setzen, noch überhaupt politische Perspektiven und Kritik zu formulieren oder einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang über elitäre Studierenden-Interessen hinaus herzustellen.

Vollversammlungen, zu Anfang noch stark genutzt, wurden spätestens als es auf die Ferien zu ging zu zehn-bis-zwanzig-Menschen-Versammlungen. Arbeitsgruppen, die gebildet worden waren, schliefen ein, waren unschlüssig und kontinuierliches Arbeit war hier in vielen Fällen nicht möglich. Strukturen, Arbeitsgruppen und Diskussionsforen, die in der Bildungsstreikwoche geschaffen worden waren, sind bereits kurz danach schon wieder verschwunden.

Wenn wir uns in einer Vollversammlung mit anderen Menschen treffen und austauschen, so dient das nicht nur zur Bespaßung, sondern ist mit konkreten Erwartungen, Zielen usw. verknüpft. Einfach nur der Herde hinterherlaufen ist nicht nur dumm, sondern im Zweifel auch (Selbst-)Mord.

Politischer Protest kann nicht heißen, einmal auf die Straße zu gehen und sich dann wieder hinter das Lernen für die nächste Klausur zu klemmen, in der Hoffnung, die Herrschenden hätten das Signal jetzt schon gerafft. Die Probleme, mit denen wir hier zu kämpfen haben, sind strukturell gewollt und gegen uns gerichtet und keine “Umsetzungsprobleme” einer an sich guten Idee.

Deswegen muß politische Arbeit und Partizipation zur Normalität werden: Vollversammlungen dürfen keine Ausnahmen bleiben. Wir müssen sie als Instrumente wahrnehmen, uns kollektiv über unsere Bedürfnisse auszutauschen, politische Kampagnen aufzubauen, die ihre Kraft aus unserer Masse schöpfen und in der Lage sind, Druck von unten aufzubauen und direkt in die gesellschaftlichen Prozesse eingreifen, Veränderungen zu bewirken!

Wir müssen diesen Autoritätsglauben an Institutionen und Vertreter*innen abstreifen und anfangen, unser Leben, angefangen bei den Studienbedingungen, selbst(-organisiert) zu gestalten.

Wie kann es weitergehen?

Wir brauchen Lösungen fernab von dieser unmenschlichen Verwertungslogik, die tagtäglich Menschen in Gewinner*innen und Verlierer*innen einteilt und uns zwingt, unser Leben an den Maßstäben wirtschaftlicher Produktivität und nationaler Stabilität auszurichten! Wir müssen Lösungen finden, bevor wir abstumpfen, unsere Freundschaften verlorengehen, unser Körper nicht mehr mitspielt, wir mit unserem “burnout” aussortiert werden und uns alleingelassen und hilflos wiederfinden.

Wir müssen uns fragen, wie wir ein solidarisches und unterstützendes Klima an der Uni herstellen können, die an uns angelegten Maßstäbe (Durchschnittsnoten, Anwesenheitspflichten usw.) boykottieren und überwinden können. Auch wenn wir nicht zu den Unglücklichen gehören, die scheitern, werden wir durch ein System, das Zwang und Angst als einziges Motivationsmittel gegen uns einsetzt, täglich belästigt und traktiert.

Die Veranstaltung von Vollversammlungen an den Seminaren war ein erster Schritt, um eine Struktur zur Verfügung zu stellen, die es erlaubt, gemeinsam und auf Grundlage gemeinsamer Überlegungen politisch zu handeln.

Veränderungen in den Studienordnungen, Verbesserungen, was Workload, Creditpunktanzahl oder Wahlmöglichkeiten angeht wurden erreicht, Dozierende hörten in Institutsversammlungen und öffentlichen Diskussionen unseren Forderungen zu und waren gezwungen, sich zu positionieren. Dies geschah alles noch ungeordnet und teilweise chaotisch.

Was kann ich persönlich tun?

Beteilige Dich an den Diskussionen in Kleingruppen, an den Demonstrationen, Aktionen und Vollversammlungen! Bringe Deine Ideen und Vorschläge ein. Motiviere Deine Kommilliton*innen und diskutiere mit ihnen; verteile Flugblätter und klebe Plakate.

Erinnern wir uns: Wir sind nicht allein, unsere Kommiliton*innen haben die gleichen Probleme wie wir, sie befinden sich in der gleichen Lage und leiden unter den gleichen Studienbedingungen. Es ist wichtig, daß ihr euch gemeinsam zusammenschließt und über euere Probleme, Ängste und die Situation am Seminar redet und gemeinsam Lösungsansätze entwickelt.

Wir müssen aufhören, uns gegenseitig Probleme zu machen, und anfangen, gemeinsam Lösungen zu finden. Das ist aber nur möglich, wenn wir mit dem System, das uns vorgesetzt wird, brechen: Nicht mehr gegeneinander Klausuren schreiben und gegen einzelne “Betrüger*innen”, die abschreiben, hetzen, sondern allesamt zusammenarbeiten. Die Anwesenheitsliste einfach mal verschwinden lassen, Fakten schaffen ...

[Protest braucht langen Atem. Organisiert euch in Basisgruppen!]
Protest braucht langen Atem. Organisiert euch in Basisgruppen!

Unser Leben in die eigenen Hände zu nehmen ist nicht einfach. Es bedeutet eine ganze Menge Arbeit, Vertrauen und Verbindlichkeit, die wir in unsere eigenen Kräfte, unsere gemeinsame Organisierung und unsere Beziehungen zueinander stecken müssen. Aber es lohnt sich, denn es bedeutet: nicht Opfer anonymer Entscheidungen zu sein, die über uns hinweg gefällt werden, nicht mehr fremden Zielen hinterher zu laufen, die ebenso anonym und scheinbar objektiv uns vorgegeben werden.

Für selbstbestimmtes Leben & Lernen! für eine starke basisdemokratische Linke! Organisiert euch in Basisgruppen!


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