Basisdemokratisches Bündnis:

Die Geschlechtermatrix

Die Zuordnung in bestimmte Geschlechterrollen mit entsprechender Bevor- oder Benachteiligung ist wohl eines der verbreitetsten und hartnäckigsten Herrschaftsverhältnisse in der Geschichte. Frauen seien aber nun in unserer Gesellschaft gleichberechtigt, heißt es. Und damit sei das Thema erledigt. Formal sind in der Tat einige Fortschritte gegenüber den letzten Jahrhunderten erreicht, doch in der Realität ist eine strukturelle Benachteiligung offensichtlich: Ein Blick auf Gehaltsunterschiede oder die Besetzung von höheren Ämtern und Stellen vermittelt ein anderes Bild. Mit diesem Artikel sollen einige Grundbegriffe geklärt werden, mit denen Geschlechterverhältnisse erfasst werden können.

Mit der Herausbildung der modernen, bürgerlichen Gesellschaft und der damit einhergehenden Industrialisierung veränderten sich auch die Geschlechterrollen und die damit verbundenen Vorstellungen: Während die Männer als Lohnarbeiter die Produktion in der Fabrik erledigten, wurde den Frauen der häusliche Bereich der „Reproduktion” zugeschrieben. Die damalige Industrialisierung war zwar auch wesentlich von einer ausgeprägten Frauen- und Kinderarbeit getragen, die aber gerade mittels dieser Zuschreibungen ihre Funktion als „Billiglohn”-Arbeit erfüllen konnte. Denn diese Zuschreibungen gehen mit einer patriarchalen Hierarchisierung einher: Das „Weibliche” wird gegenüber dem „Männlichen” abgewertet.

Grundlegend geschlechtlich besetzt und hierarchisiert sind in dieser Hinsicht vielerlei gedankliche Dualismen, die diese Gesellschaft hervorgebracht hat: Natur-Kultur, Privatheit-Öffentlichkeit, Emotionalität-Rationalität, Passivität-Aktivität usw. – Ersteres wird „dem Weiblichen”, letzteres „dem Männlichen” zugeschrieben. Diese Zuschreibungen strukturierten ebenso die Institutionen jener Gesellschaft: Z.B. sind Ökonomie, Staat und die Politik als „öffentliche” Sphären nach „männlichen” Prinzipien strukturiert und entsprechend männlich dominiert, während Hausarbeit, Kindererziehung als „privater Bereich” mit „weiblichen” Attributen assoziiert und weitestgehend an Frauen delegiert werden.

Solche Zuschreibungen sollten später mit verschiedensten biologistisch-naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen (Gene, Hormone, Hirnstrukturen, Körpberbau, Gebärmutter etc.) als „natürliche Ordnung” gerechtfertigt und in die Geschichte als „immer schon so” zurück projiziert werden.1

Kurze Geschichte des Feminismus

Die ersten größeren modernen Frauenbewegungen formulierten bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Widerstand gegen diese Geschlechterordnung. Während Frauen aus höheren Schichten um politischen Einfluss und Zugang zu Bildung und Kultur kämpften, rangen Frauen aus unteren, lohnabhängigen Schichten um eine konkrete Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Die Frauenbefreiung verbanden sie zumeist auch mit einer grundsätzlichen Kritik am kapitalistischen System. Mit der November-Revolution erreichten Frauen 1918 in Deutschland unter anderem das Wahlrecht und Zugang zu Universitäten.

Parallel dazu formierten sich Bewegungen von Homosexuellen, die aber meist nur wenig Anknüpfungspunkte mit den Frauenbewegungen fanden und selbst noch von männlicher Dominanz geprägt waren. Sie kämpften vor allem gegen die in dieser Geschlechterordnung angelegte diskriminierende Zuschreibung als „unnatürlich”, Benachteiligung und Verfolgung, z.B. den §175, der homosexuelle Praktiken unter Gefängnisstrafe stellte.

Im Nationalsozialismus wurden viele der erkämpften Frauen-Rechte wieder zurückgenommen und die Bewegungen weitestgehend zerschlagen. Der §175 wurde verschärft und wesentlich konsequenter verfolgt. Für viele Homosexuelle bedeutete dies den Tod im KZ.

(Hier zusammenfassen, Überschrift weg: „Neuen Bewegungen” seit Ende der 1960er)

In der Bonner Republik wurde es zunächst ruhig um die Geschlechterfrage. Erst mit dem Aufkommen der „neuen sozialen Bewegungen” Ende der sechziger Jahre kam wieder Bewegung in die feministische Theorie: Neben Studenten-, Anti-Kriegs- und der späteren Öko-Bewegung gingen von hier auch diverse feministische Strömungen aus. Diese richteten sich zunächst vor allem gegen patriarchale Strukturen in Familie und Staat (insbesondere gegen den §218, der Abtreibung generell unter Strafe stellte) und erkämpften sich Räume, wie z.B. Frauenhäuser, die vor Gewalt schützen und unabhängige Freiräume schaffen sollten.

Der §175, der in der verschärften Nazi-Fassung übernommen und vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde – überlebende Homosexuelle wurden aus den KZs direkt in bundesdeutsche Gefängnisse zum Absitzen ihrer Strafe verfrachtet – wurde erst unter dem Druck der neuen Bewegungen 1969 entschärft und konnte bis in die 1990er Jahre hinein im deutschen Recht weiter existieren.

Biologie vs. Sozialisation

In den 70er und 80er Jahren differenzierten sich verschiedene feministische Strömungen heraus: Unumstritten war zunächst, dass verschiedene Verhaltensweisen durch Sozialisation bedingt sind. Unterschiedliche Einschätzungen gab es allerdings darin, wie weit biologische oder soziale Faktoren eine Rolle spielen. Die Essentialistinnen glaubten unveränderliche, natürliche „männliche” und „weibliche” Eigenschaften ausmachen zu können. Die vehementesten Vertreterinnen eines solchen Differenz-Feminismus waren die sog. Ökofeministinnen, die u.A. die Umkehrung zum „Matriarchat” („Frauenherrschaft”) anstrebten. Eine andere Position vertreten die etwas später auftretenden Dekonstruktivistinnen, die „Männlichkeit” und „Weiblichkeit” vor allem als soziale Kategorien entschlüsselten.

Sex, Gender & Desire

Begrifflich kristallisierten sich aus dieser Debatte die Unterscheidung zwischen dem biologischen Geschlecht (engl. »sex«), dass nur für die Reproduktion (Nachwuchs zeugen und „erziehen”) entscheidend sei und dem gesellschaftlich-kulturellen Geschlecht (engl. »gender«), das sozial hergestellte Geschlechterrollen beschreibt, heraus. Infrage gestellt wurde in der weiteren Debatte vor allem auch die Vorstellung von einem einheitlichen Interesse aller Frauen. Besonders schwarze Frauen in den USA betonten die verschiedene Lebensrealitäten und damit auch eine Verschränkung mit anderen Herrschaftsverhältnissen. Auch in Lesben- und Schwulenbewegung wurde die Debatte geführt, die als weitere Kategorie das sexuelle Begehren (engl. »desire«) in die Theoriebildung mit einfließen ließ.

Zweigeschlechtlichkeit

Ethnologische Untersuchungen entschlüsselten bereits zu Beginn der Debatte um »sex« und »gender« die zweigeschlechtliche Konstitution des »gender«: Kulturen, die mehr als zwei Geschlechter hervor bringen, widerlegten die grundsätzliche Annahme, es gäbe prinzipiell nur zwei »gender«, die lediglich verschieden gefüllt werden würden. Die Debatte um den dekonstruktivistischen Ansatz wagte sich sehr bald auch daran, die biologische Zweigeschlechtlichkeit zu hinterfragen: Die Unterscheidungsmerkmale, die in Biologie und Medizin heran gezogen werden, um das Geschlecht zu identifizieren (Chromosomensatz, Hormonspiegel, innere und äußere Geschlechtsmerkmale etc.), stellen sich bei näherer Betrachtung als nicht so eindeutig heraus, wie gemeinhin angenommen wird: Allein die Bestimmung über den Chromensatz ist bereits uneindeutig. So werden einige Menschen mit nur einem X, oder drei X-Chromosomen geboren, einige Menschen mit äußeren „weiblichen” Geschlechtsmerkmalen, aber einem „männlichen” XY-Chromosomensatz, angebliche Männer mit „weiblichen” Hormonspiegel usw.

Die Medizin hat vor allem sog. Intersexuelle (Menschen, deren Geschlecht aus der biologischen Definition von Mann und Frau heraus fällt) stets als „biologische Ausnahme”, als Abweichung und somit als „gestörte” Ausbildung eines der beiden Geschlechter interpretiert. Diese Definition nimmt für Intersexuelle reale Gewalt an: Babys mit nicht eindeutig interpretierbaren Geschlechtsmerkmalen werden oftmals operativ an das Zweigeschlechtermodell angepasst und über Jahre hinweg mit Hormonen „behandelt”.

(kann weg: Diese Definition kann jene Wissenschaft nur vornehmen, wenn die Zweigeschlechtlichkeit und der alleinige Zweck der Fortpflanzung bereits als unbewiesene Vorannahme vorausgesetzt ist. Als „Abweichung” kann nur vor dem Hintergrund dieser Annahme alles erscheinen, was nicht in das System der zwei Geschlechter hinein passt. Auch Hilfsbegründungen wie etwa, dass es sich um statistisch seltene Fälle handele, kann nicht hinreichend begründen, warum es eigentlich nur zwei Geschlechter geben soll: Nach dem gleichen Prinzip könnten z.B. selten vorkommene grüne Augenfarben als „Abweichung” definiert werden. Dies passiert aber zum Glück nicht, da hierfür keine vorausgesetzte, gesellschaftlich produzierte Kategorie wie Geschlecht existiert.)

Mit der Dekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit war nun auch der Grundstein dafür gelegt, dass die feministische Theoriebildung emanzipatorische Sprengkraft für Inter- und Transsexuelle (Menschen, die sich „dem anderen Geschlecht” zugehörig fühlen) bietet. Die strenge Unterscheidung von „sex” und „gender” hat der Dekonstruktivismus damit aufgegeben und ist dazu übergegangen, auch das scheinbar biologische Geschlecht als eine Projektion gesellschaftlicher Verhältnisse zu betrachten. Dabei soll selbstverständlich, um Fehlinterpretationen zu vermeiden, nicht geleugnet werden, dass Menschen unterschiedliche Körper besitzen. Diese sind allerdings nicht eindeutig in zwei Geschlechter kategorisierbar, noch sind daraus soziale Verhaltensmuster ableitbar.

Heteronormativität

In der dichotomen Definition der zwei Geschlechter als gegensätzliche, sich jeweils ausschließende, wird immer auch mitgedacht, dass sich das Begehren jeweils auf das entgegen gesetzte Geschlecht beziehe: Ein Mann begehrt Frauen, eine Frau begehrt Männer. Mit diesem Verständnis werden bis heute Lesben und Schwule als „unnatürlich” oder „unnormal” wahrgenommen.

Diese normative Trennung zwischen homo- und heterosexuell stützt sich aber neben der Zweigeschlechtlichkeit auch auf eine weitere gesellschaftliche Denk- und Handlungsstruktur, nämlich der Herauslösung von Sexualität, Erotik und Liebe als besondere Formen der Beziehung: Jeder heterosexuelle Mann z.B. wird kaum leugnen, dass er Beziehungen mit Männern führt. Nur werden diese als „Männerfreundschaft” nicht als gleichgeschlechtliche Beziehungen wahrgenommen, da sie durch ein bestimmtes „Regelsystem” von „erlaubten” und „verbotenen” Umgangsweisen klar von romatischen Beziehungen unterschieden sind.

Solche Überzeugungen können sich alltäglich auf die gesellschaftliche Strukturierung menschlicher Beziehungen stützen. Beispielsweise ist die Bedeutung der heterosexuellen Ehe und der Familie sehr groß für den Erhalt des patriarchalen kapitalistischen Systems. Es wird viel Energie darauf verwendet, dass Institutionen der Heterosexualität geschützt und die Machtverhältnisse in solchen familiären Räumen, in welchen auch die Regeneration der Kräfte für den anstrengenden Alltag geleistet werden muss, gefestigt werden können.

Gesellschaftliche Herrschaft und Patriarchat

Vor dem Hintergrund einer solchen Kritik stellt sich die Kategorie Geschlecht als ein gesellschaftliches Herrschaftsprinzip dar, das nicht mehr von einem einfachen Unterdrückungsverhältnis mit Frauen auf der einen und Männern auf der anderen Seite ausgehen kann. Vielmehr geht es um verobjektivierte Gedanken-, Handlungs- und Wahrnehmungsformen, denen Menschen jeder geschlechtlicher Zuschreibung unterworfen sind. Diese zwingen uns in bestimmte Rollen, erzeugen bestimmte Bewertungs- und Diskriminierungstendenzen, wirken materiell zurück und lassen uns die bestehenden Verhältnisse jeden Tag aufs neue reproduzieren. Geschlecht strukturiert also gesellschaftliche Verhältnisse und legitimiert zusätzlich diese Herrschaftsverhältnisse durch die hartnäckige Gedankenform, es handle sich um biologische und damit unabwendbare Natürlichkeit. Selbst bei einer solchen Analyse müssen wir feststellen, dass allein das Infragestellen uns nicht aus jener Gedankenform heraus hilft.

Die Feststellung, dass dieses Verhältnisse durch uns alle durch geht, heißt aber nicht, dass ein Begriff von Patriarchat getrost fallengelassen werden kann: Innerhalb der zweigeschlechtlichen Struktur sind die Geschlechter nicht „auf gleicher Augenhöhe” angesiedelt, Frauen sind und bleiben auch heute noch strukturell benachteiligt. „Patriarchat” ist in diesem Sinne auch doppelt zu verstehen: Sowohl als patriarchales Verhalten oder sexistische Handlungen von Einzelnen, die durch eine Analyse der gesellschaftlichen Strukturen bestenfalls nachvollzogen, nicht aber entschuldigt werden oder unbekämpft bleiben können, als auch als hierarchisierende, gesellschaftliche und damit „unpersönliche” Herrschaftsstruktur, die es zu überwinden gilt.


Dieser Artikel ist abrufbar unter: //archiv.bb-goettingen.de/1645