Nazis und innere Sicherheit
Wenn NPD, Freie Kameradschaften und andere Neonazis am 29.Oktober durch Göttingen marschieren, dann wird ein Großaufgebot von Bereitschaftspolizei, Bundespolizei und Polizeisondereinheiten ihnen die Demonstrationsroute absperren, versuchen einen ungehinderten Demonstrationsfluss zu gewährleisten und eventuell auch gegen AntifaschistInnen und ihren Protest vorgehen.
Solche Polizeiaufgebote werden legitimiert mit dem Hinweis, die Polizei hätte die Aufgabe, das im Grundgesetz festgeschriebene Recht auf Versammlungsfreiheit auch Faschisten und Neonazis zu gewähren. (siehe Kasten rechts)
Besonders selbstbewußt treten NPD und mit ihr assoziierte und/oder agierende Gruppen seit der Ablehnung des vom Bundestag initiierten Verbotsantrags durch das Bundesverfassungsgericht auf. Ihre Möglichkeiten, Kundgebungen und Aufmärsche trotz Verbot vor Gericht einklagen zu können, haben sich seit dieser Adelung zur quasi-demokratischen, da nicht verbotenen Partei, enorm erhöht und von dieser Möglichkeit macht die NPD nun auch ausgiebig Gebrauch.
Die Chancen, Naziaufmärsche bereits im Vorfeld auf rechtlichem Wege gar nicht erst stattfinden zu lassen, ist dadurch enorm gesunken. Oder es wird, wie diesmal in Göttingen seitens der Stadtverwaltung, erst gar nicht versucht. Damit hat sich bereits eine gefährliche vorsichtige Akzeptanz faschistischer, rassistischer, antisemitischer und demokratiefeindlicher Inhalte im öffentlichen Raum entwickelt.
Berlin is in Germany - Braunschweig too
Aber auch wenn Nazis marschieren, spielen offizielle Organe eine wichtige Rolle dabei die (rechtsstaatliche) Akzeptanz rechter und rechtsradikaler Positionen zu fördern. Eine Schlüsselpositionen haben hierbei die vor Ort zusammengezogenen Polizeieinheiten. Wie diese sich vor Ort verhalten, hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Möglichkeit und auch Bereitschaft von Neonazis, ihre Positionen und Inhalte in der Öffentlichkeit zu setzen. Ausmaß und Art der Polizeieinsätze hängen dabei sowohl (und vielleicht vor allem) von dem Willen und Absichten der politisch Verantwortlichen ab. Auch von der Einschätzung, der Einstellung und Handlungsbereitschaft und den daraus resultierenden Handlungen der Polizeikräfte vor Ort (dem so genannten Ermessensspielraum). Nicht zuletzt von den Entscheidungen und Handlungen jedes einzelnen Beamten vor Ort hängt dies ab. Hierzu einige Beispiele aus der nahen Vergangenheit:
Als bekannt wurde, das am 8.Mai, dem Tag des Sieges der Alliierten über Deutschland, und damit dem Tag der Befreiung der Welt vom nationalsozialistischen Terror, die NPD, freie Kameradschaften und Angehörige verschiedener anderer Naziorganisationen aus dem In- und Ausland durch Berlin marschieren wollten, war der Aufschrei in der Republik groß. Nicht zuletzt das enorme Interesse internationaler Medien war ausschlaggebend dafür, dass Bundestag und bundesrepublikanische Öffentlichkeit darüber diskutierten, wie man dem begegnen könnte. Den Aufmarsch von vornherein verbieten zu lassen, schien den „Verantwortlichen” allerdings nicht aussichtsreich, er war schließlich angemeldet und formaljuristisch in Ordnung. Vielmehr wollte man mit einem „Fest der Demokratie” von offizieller Seite Akzente gegen Nazis fernab von deren Versammlungsplatz und Marschroute setzten.
Dennoch gab es an diesem Tag viele, die sich an Aktivitäten gegen den Naziaufmarsch beteiligen und sich den Nazis in den Weg stellen wollten. 15.000 Menschen blockierten später erfolgreich Straßen und Plätze, die sich in unmittelbarer Nähe zum Alexanderplatz befanden, auf dem sich etwa 2200 Nazis versammelten, und verhinderten so, dass diese sich in Bewegung setzten konnten. Durchaus ein Erfolg, der aber auf Grund der rigorosen Abschottung des Alexanderplatzes, der moderat agierenden Polizeikräfte und den Bekundungen seitens der Politik, absehbar war und eingeplant wirkte. Polizeipräsident Glietsch erklärte später, wegen der vielen Gegendemonstranten sei eine friedliche Durchführung des NPD-Aufmarschs nicht mehr gewährleistet gewesen. "Ein Durchprügeln wäre unverhältnismäßig gewesen.” Es hätte auch nicht gut ausgesehen. Es muß klar herausgestellt werden, dass es sich dabei um eine politisch gewollte Verhinderung des Aufmarsches handelte.
In anderen Städten, in denen die NPD marschierte, ergab sich häufig ein ganz anderes Bild. Beispielhaft hierfür ist das Vorgehen der Polizei bei den NPD-Demonstrationen in Braunschweig am 18. Juni und in Oldenburg am 3. September. In Braunschweig kam es während des Umzugs von ca. 300 Neonazis wiederholt zu friedlichen (Sitz-)blockaden, bei denen sich insgesamt etwa 3000 Menschen beteiligten. Im Gegensatz zu Berlin kesselte in Braunschweig die Polizei die Gegendemonstranten mit mehreren Reihen, ließ jede Blockade gewaltsam räumen und setzte dabei auch Wasserwerfer, Schlagstöcke, Pferde und rigide ihre eigenen Körper ein (Treten, Schlagen). Der Befehl, den Aufmarsch der Nazis durchzuprügeln, wurde an diesem Tag direkt aus dem Innenministerium des Landes Niedersachsen gegeben. Aber auch die Einsatzkräfte vor Ort entschieden sich für ein solches Vorgehen: Nachdem mehrmals die Möglichkeit bestanden hätte die Nazidemo aufzulösen und die Nazis nach Hause zu schicken (der Demozug der Nazis wurde teils stundenlang gestoppt). Stattdessen wurden Verletzungen und Einschränkungen der Freiheit vieler Gegendemonstranten billigend in Kauf genommen.
It?s the economy, stupid!
Aber warum bringt der Staat seine Polizeiorgane manchmal aggressiv gegen AntifaschistInnen in Stellung und manchmal nicht? Die Entscheidung Naziaufmärsche auch gegen berechtigten Widerstand durchzusetzen, ist für Staatsorgane immer auch verknüpft mit Fragen der Staatsräson, der Wahrnehmung im In- und Ausland, Standortfragen und nicht zuletzt mit wirtschaftlichen Interessen. Genau an diesem Punkt schließt sich der Kreis in Bezug auf die Demonstration der Nazis in Berlin und der Intention der Parlamentarischen Kräfte. Denn dabei ging es nicht darum, deutlich zu machen, dass der nationale Chauvinismus auf den Mülleimer der Geschichte gehört, sondern dass es auch einen aufgeklärten Nationalismus Marke BRD gibt, der sich mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt und somit die Lehren daraus gezogen hat. Mit anderen Worten, Deutschland ist wieder ein netter Standort, bei dem es sich lohnt zu investieren.
Eine ähnliche Ansicht teilt übrigens der derzeitige AStA, wenn er das Ansehen der Stadt Göttingen als genuines Interesse der hiesigen Studenten verkaufen will, aus dem heraus gegen Nazis zu demonstrieren sei. Als wären Neonazis nur deswegen abzulehnen, weil sie dem Standort schaden. Wer sich noch nicht eins mit seiner Uni und Stadt fühlt, sollte den Irrwitz und die Sinnlosigkeit dieser Argumentation erkennen.
Zum einen ist der 29.10.2005 kein Tag, an dem die internationale Presse da sein wird und somit nicht schon von vornherein Druck auf die Stadt ausgeübt wird, zum anderen wird in dem Dienstplan der Ordnungshüter wohl diesmal nicht stehen, dass sensible Strassen offen sind, um Göttingen ein bürgerlich antifaschistisches Antlitz zu verleihen. Wie beispielsweise in Braunschweig und Oldenburg, aber auch in anderen Orten, zu sehen war, steht die Polizei mit einer enormen Übermacht de facto für die Neonazis und gegen die GegendemonstrantInnen.
Die Polizei – Ihr Freund und Helfer?
Wenn die Einsatzleitung gefragt wird, warum die überhaupt marschieren dürfen, fällt die Antwort immer gleich aus: „Es gibt ja keine rechtliche Handhabe dafür und die Polizei muss ihren Job machen”. Das heißt, eigentlich will das Individuum im Kollektiv Polizei überhaupt nicht dort stehen wo er oder sie steht. Dennoch schafft die Institution Polizei einen Raum, in dem die Wünsche und Bedürfnisse dieses Individuums nur noch eine sehr geringe und gelenkte Rolle spielen. Die Verdinglichung des Polizeisubjekts (das heißt die Überblendung des Individuums mit der ihm zugeschriebenen Funktion) geschieht einerseits über verinnerlichte Repression, in der Abstraktion von den realen Bedingungen: „Wir machen nur unseren Job”, egal ob dabei Faschisten beschützen werden oder geholfen wird, MigrantInnen abzuschieben, etc. Andererseits über die Zurichtung des Indiviuums als Teil des Zwangskollektivs Polizei. Pflichterfüllung steht vor den Interessen des Individuums, welches sich gefälligst unterzuordnen hat. Die Polizei ist auch eine Produktionsstätte autoritärer Charaktere.
Doch in der Realität besitzt die Polizei einen Ermessensspielraum auch auf der Ebene der Ausführung, auch wenn dieser öfter mal zum Abreagieren von Aggressionen und Frust genutzt wird. Es bleibt abzuwarten, ob die Polizei, die in Göttingen die Nazis voraussichtlich schützen wird, eine Deeskalations- oder eine Eskalationsstrategie anstreben wird. Doch eines muss an diesem Tag deutlich werden, nämlich dass Antifaschismus nichts, aber auch rein gar nichts, mit Lokalpatriotismus und Standortinteressen zu tun hat.