Einführung in die kritische Theorie.

Horkheimer, Adorno, Marcuse

Der Begriff „kritische Theorie” impliziert erst einmal zwei Verständnisweisen: Zunächst bezeichnet „kritische Theorie” eine Gruppe von Theoretikern und ihre (theoretischen) Arbeiten, wie sie historisch im Kreis um Max Horkheimer und des Instituts für Sozialforschung Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts entstand; unter „kritischer Theorie” muß aber auch der Begriff verstanden werden, wie er innerhalb dieser Gruppe verwendet und entwickelt wurde, und der hinausreicht über diese Gruppe.

Kritisch ist nach diesem Verständnis die „Theorie, die die Gesellschaft analysiert im Licht ihrer genutzten und ungenutzten oder mißbrauchten Kapazitäten zur Verbesserung der menschlichen Lage.”1

„Die kritische Theorie der Gesellschaft hat [dabei] die Menschen als Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand.”2 Die Gesellschaft ist von Menschen gemacht und muß als gemachte verstanden werden. Die Erfahrung in der bestehenden Gesellschaft ist aber die, dass die Prozesse in ihr, dass ihre gesamte Verfaßtheit den Menschen als etwas erscheint, über das sie keine Macht besitzen, dass außerhalb ihres Einflußes liegt. „Indem sie [die Subjekte des kritischen Verhaltens] die gegenwärtige Wirtschaftsweise und die gesamte auf ihr begründete Kultur als Produkt menschlicher Arbeit erkennen, als die Organisation, die sich die Menschheit in dieser Epoche gegeben hat und zu der sie fähig war, identifizieren sie sich selbst mit diesem Ganzen und begreifen

es als Willen und Vernunft; es ist ihre eigene Welt. Zugleich erfahren sie, daß die Gesellschaft außermenschlichen Naturprozessen, bloßen Mechanismen, zu vergleichen ist, weil die auf Kampf und Unterdrückung beruhenden Kulturformen keine Zeugnisse eines einheitlichen, selbstbewußten Willens sind;

diese Welt ist nicht die ihre, sondern die des Kapitals.”3

Von dieser „Urerfahrung” ausgehend und in der „Sorge um das Glück der Menschen, und [in der] Überzeugung, daß dieses Glück nur durch die Veränderung der materiellen Daseinsverhältnisse zu erreichen”4 sein wird, sucht die kritische Theorie das in der Philosophie und Geschichte der Menschen auf, was auf die vernünftige Organisation der menschlichen Aktivität gerichtet war, und was bisher unterdrückt oder affirmativ entkräftet wurde. Sie wagt den „Tigersprung ins Vergangene”5.

Deutlich wird dieses Vorgehen an der kritischen Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie, die ihren Ausdruck im Idealismus fand: „In der bürgerlichen Epoche wurde die Wirklichkeit der Vernunft zu der Aufgabe, die das freie Individuum leisten sollte. Das Subjekt war die Stätte der Vernunft: von ihm aus sollte die Objektivität vernünftig werden. Die materiellen Daseinsverhältnisse ließen der autonomen Vernunft jedoch nur im reinen Denken und im reinen Wollen ihre Freiheit. Nun aber ist

eine gesellschaftliche Situation erreicht worden, in der die Verwirklichung der Vernunft nicht mehr auf das reine Denken und Wollen beschränkt zu werden braucht. Wenn Vernunft die Gestaltung des Lebens nach der freien Entscheidung der erkennenden Menschen meint, so weist die Forderung der Vernunft nun auf die Schaffung einer gesellschaftlichen Organisation, in der die Individuuen nach ihren Bedürfnissen ihr Leben regeln.”6 Die kritische Theorie nimmt die Ideen der bürgerlichen Philosophie ernst, sie fordert die Freiheit der Individuen nicht nur im Geist, sondern in der Realität ein: „... die menschliche Freiheit [ist in der kritischen Theorie] kein Phantom und keine unverpflichtende Innerlichkeit, sondern eine reale Möglichkeit,

eine gesellschaftliche Beziehung, von deren Verwirklichung das Schicksal der Menschheit abhängt.”7 Der Nachweis der realen Möglichkeit einer vernünftigen Gesellschaft beim heutigen Stand der menschlichen Produktivkräfte8

fordert die Ersetzung der bestehenden blinden und bewußtlosen Notwendigkeiten, mit denen die Gesellschaft den einzelnen Individuen entegegentritt, durch eine bewußte Ergreifung der eigenen Möglichkeiten durch die freigewordenen Individuen.

Notwendigkeit: „Soweit sie vom Menschen unbeherrscht, ihm entgegensteht, gilt sie einerseits als das Naturreich, das trotz der weitreichenden Eroberungen, die noch zu machen sind, nie ganz verschwinden wird, andererseits als die Ohnmacht der bisherigen Gesellschaft, den Kampf mit dieser Natur in einer bewußten und zweckmäßigen Organisation zu führen.”9

Kritische Theorie ist deshalb notwendigerweise Bewußtwerdung und (Selbst-)Reflexion, denn „einzig kritische Selbstreflexion behütet das Subjekt vor der Beschränktheit seiner Fülle [vor allem davor, diese Beschränktheit positiv zu wenden] und davor, eine Wand zwischen sich und das Objekt zu bauen, sein Fürsichsein als das An und für sich zu supponieren.”10: diese erfordert eine besondere Verhaltensweise des Subjekts.

„Die Alternative, Kultur [auch Gesellschaft] insgesamt von außen, unter dem Oberbegriff der Ideologie in Frage zu stellen, oder sie mit den Normen zu konfrontieren, die sie selbst auskristallisiert, kann die kritische Theorie nicht anerkennen. Auf der Entscheidung: immanent oder transzendent zu bestehen, ist ein Rückfall in die traditionelle Logik...”11

Die besondere Verhaltensweise ist eine gedoppelte, beweglich zwischen den Polen. „Beweglichkeit ist dem Bewußtsein essentiell, keine zufällige Eigenschaft. Sie meint eine gedoppelte Verhaltensweise: die von innen her, den immanenten Prozeß, die eigentlich dialektische; und eine freie, gleichwie aus der Dialektik heraustretende, ungebundene. [...] Beide Stellungen des Bewußtseins verbinden sich durch Kritik aneinander, nicht durch Kompromiß.”12

Das Interesse an einer vernünftigen Organisation der menschlichen Aktivität, dem die kritische Theorie in der Bildung ihrer Kategorien und allen Phasen ihres Fortgangs bewußt folgt13, erfordert im Selbstverständnis der kritischen Theorie eine Kritik der Vernunft, eine Selbstreflexion der Vernunft, wie sie in der „Dialektik der Aufklärung” sich ausformuliert. „Vernunft

ist die Grundkategorie philosophischen Denkens, die einzige, wodurch [die Philosophie] sich mit dem Schicksal der Menschheit verbunden hält.”14

Vernunft ist das Programm der Aufklärung. „Seit je hat die Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen.” Ziel der Aufklärung ist es, die Menschen zur vernünftigen Organisation der menschlichen Aktivität zu befähigen. „Aber die vollends aufgeklärte Welt strahlt im

Zeichen triumphalen Unheils”15, stellen Horkheimer und Adorno zu Beginn der Dialektik der Aufklärung fest.

Kritik der Vernunft wird notwendig, um gewahr zu werden, wo Vernunft in Irrationalität, Aufklärung in Mythos umschlug, um noch

auszumachen, was überhaupt vernünftig ist. Herauszufinden ist, warum „die unermesslich größer werdenden geistigen und materiellen Fähigkeiten der gegenwärtigen Gesellschaft”, die im Sinne von aufklärerischer Praxis in

vernünftiger Weise zur weiteren Befreiung der Individuen eingesetzt werden sollten, „fast einzig noch verwendet [werden] um die Reichweite der gesellschaftlichen Herrschaft über das Individuum unermeßlich zu vergrößern”16Die Frage ist bestimmend für Praxis, die

wo das aufklärerische über das magische Bewußtsein, Aufklärung über Mythos triumphierte. Der Triumph wurde möglich, da Aufklärung der Natur das mit gleichen Mitteln zurückzahlte, wodurch sie den Menschen zu beherrschen schien, Gewalt und Furcht. Herrschaft über die Natur setzt eine Trennung

zwischen Subjekt und der äußeren Natur voraus. Diese Trennung aber muß, obwohl anscheinend in gewaltsamer, einwirkender Erfahrung begründet, erst selber gewaltsam gesetzt, vor allem aber als einziger Unterschied begründet werden.17

„Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen”18

Herrschaft über die Natur heißt aber auch Herrschaft über die menschliche Natur. Da in der Art der Herrschaft, mit den Mitteln Gewalt und Furcht, Mythos sich fortsetzt, als Index mitgeschleppt wird, setzt mythische Herrschaft sich fort. Im absolut gesetzten Logos verselbstständigt sich die vernünftige Herrschaft über die Natur vom Menschen. Der einzelne Mensch vermag nichts mehr über sie. Vielmehr tritt sie ihm als objektivierte, als Gesellschaft wie eine zweite Natur gegenüber. Er selbst wird von ihr als ebenfalls als Teil dessen behandelt, was es zu beherrschen gilt, als ungebändigte Natur. Naturbeherrschung, die das Subjekt erst entstehen ließ, schlägt um in Herrschaft über das Subjekt, erschlägt die Regungen, die es als Subjekt

ausmachen, tendiert also zur Auslöschung des Subjekts. Vielmehr versucht sie, das Subjekt zum Exemplar der Gattung zu reduzieren, letztlich austauschbar. Der Mensch wird in die Warenform gepresst.


Diskutiert wurde im weiteren die Frage der Möglichkeit von

Praxis auf der Grundlage dieser Theoriekonzeption. Der Pessimismus gegenüber der Möglichkeit richtiger Praxis, der aus vielen Sätzen der kritischen Theorie spricht19, die Unmöglichkeit, im vorhinein zu bestimmen, was richtige Praxis sei und wie die richtige Gesellschaft aussieht, scheinen Praxis fast zu einem Ding der Unmöglichkeit zu machen. Die Handlungsoptionen scheinen arg begrenzt und weiter abzunehmen, wenn mögliche Reaktionsweisen sich historisch als falsch erwiesen haben.

Aber auch wenn das „Streben nach einem Zustand ohne Ausbeutung und

Unterdrückung, in dem tatsächlich ein umgreifendes Subjekt, das heißt die selbstbewußte Menschheit existiert und in dem von einheitlicher Theorienbildung, von einem die Individuen übergreifenden Denken gesprochen werden kann, [] noch nicht seine Verwirklichun”20 ist, so bestimmt es doch die richtige Praxis. „...Ein Wille, der sich auf die Gestaltung der Gesellschaft im ganzen bezieht, [ist] bewußt schon im Aufbau der Theorie und Praxis wirksam [ ], die dahin führen soll. In der Organisation und Gemeinschaft der Kämpfenden erscheint trotz aller Disziplin, die in der Notwendigkeit, sich durchzusetzten, begründet ist, etwas von der Freiheit und Spontaneität der Zukunft.”21

Ähnlich der besonderen Verhaltensweise, bei der im Nachvollzug des immanenten Prozesses, in der Dialektik, das Bewußtsein gleichwie aus der Dialektik heraustritt und auf das richtige weist, so erscheint über die gebotene Disziplin hinaus das Neue. Dies bestimmt sich aber nur dort, wo es innerhalb der Dialektik ausgemacht werden kann und bleibt dieser verhaftet. Bei Horkheimer wird dies deutlich, wenn er die Dialektik des Begriffs der Notwendigkeit beschreibt: Notwendigkeit gilt, „soweit sie, vom Menschen unbeherrscht, ihm entgegensteht, [ ] einerseits als das Naturreich, das trotz der weitreichenden Eroberungen, die noch zu machen sind, nie ganz verschwinden wird, andererseits als die Ohnmacht der bidherigen Gesellschaft, den Kampf mit dieser Natur in einer bewußten und zweckmäßigen Organisation zu führen.” Aber, „die Anwendbarkeit, selbst das Verständnis dieser und anderer Begriffe der kritischen Denkart sind an die eigene Aktivität und Anstrengung, an einen Willen im erkennenden Subjekt geknüpft.” Deshalb ist „der Begriff der Notwendigkeit [] in der kritischen Theorie selbst ein kritischer; er setzt den der Freiheit voraus, wenn auch nicht als einer existierenden.”22Freiheit ist unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht als solche zu haben und auch nicht als bereits existierend zu postulieren, vielmehr ist sie nur auszumachen im Gegensatz zur bestehenden Unfreiheit. Dieser Gegensatz bestimmt die Praxis, die zu machen ist.

In der steten Reflexion auf Gesellschaft und das eigene Handeln, die kritische Theorie intendiert, erschließt sich was zu tun ist. Sie hängt auch ab vom bestimmten Gegenstand, auf den sie abzielt, muß aber gleichzeitig das ganze mitdenken.

1Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, München 1994 (zuerst erschienen Boston 1964), S.12

2Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. Nachtrag, in: Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005, S. 261(zuerst erschienen in:Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang VI, Paris 1937)

3Horkheimer,

S. 224f.

4Herbert Marcuse, Philosophie und kritische Theorie, in: ders., Kultur und Gesellschaft 1, Frankfurt a.M. 1968, S.103 (zuerst erschienen in:

Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang VI, Paris 1937)

5Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 1992, S.150

6Marcuse, Philosophie und kritische Theorie, S.109

7Marcuse, Philosophie und kritische Theorie, S.111

8Horkheimer, S.235

9Horkheimer, S.247

10Theodor W. Adorno, Negative Dialektik,in: ders., Gesammelte Schriften 6, Frankfurt a.M. 1970, S.41

11Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders., Gesammelte Schriften 10.1, Frankfurt a.M. 1977, S. 25

12 Adorno, Negative Dialektik, S. 41-42

13Vgl. Horkheimer, S.262

14Marcuse, Philosophie und kritische Theorie, S.103

15M. Horkheimer/ T.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: T.W. Adorno, Gesammelte Schriften 3, Frankfurt a.M. 1969, S.19

16Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S.12

17„Der eine Unterschied zwischen eigenem Dasein und Realität verschlingt alle anderen. Ohne Rücksicht auf die Unterschiede wird die Welt dem Menschen Untertan.” Dialektik der Aufklärung, S.24

18Dialektik

der Aufklärung, S.25

19Besonders wohl Adornos „Reflexionen aus dem beschädigten Leben” in der Minima Moralia

20Horkheimer, S.258

21Horkheimer, S.234f.

22Horkheimer, S.247

Erschienen am: 13.12.2005 AutorIn: email-address