Freiräume und leistungsorientiertes Studium

Oder: warum Freiräume eine Alternative zum Zeitmangel bieten

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1. Die Reise auf dem Fließband

Ich bin Rohmaterial. Gerade aus dem Boden gewonnen und schon unterwegs von meiner Produktionsstätte zu dem Ort, wo ich verarbeitet werden soll. Ich sehe viele Gleiche um mich herum. Was mich in der Fabrik erwartet, zu der ich gefahren werde, weiß ich nicht. Man sagt, auf mich warte eine glänzende Zukunft voller Nutzen und Sinnhaftigkeit. Ich glaube das, denn jenen, die das gesagt haben, vertraue ich. Schließlich kenne ich sie schon mein ganzes Leben lang. Mir wurde von Freiheit und Selbstverantwortung erzählt, davon, wie ich das erste Mal auf eigenen Beinen stehen kann, dass ich neue Dinge erleben und unheimlich interessante Sachen erfahren werde.

Doch als ich von der gelernten Fachkraft aus der Verpackung genommen und am Ende in ein Zahnrad geschraubt werde, merke ich, dass all das, was mir erzählt wurde, nicht zutrifft. Dass ich hierhin gekommen bin, um Teil von etwas zu sein, was Teil von etwas ist, das ich gar nicht verstehe. Ich werde hin und her und her und hin geschickt. Dieses soll ich noch machen und Jenes verstehen. An einigen Stationen mache ich halt. In Einführungsveranstaltungen wird mein Profil gebildet, so dass ich nach rechts drehe, um eingebaut zu werden. Die, die nach links drehen, werden aussortiert. Man sagt, sie seien kaputt. Ich weiß nicht, was das heißt. Dann muss ich Module durchlaufen. Ich kriege einen Schliff, werde poliert. Angewandtes Glänzen wird mir beigebracht. Wie lange das Ganze dauert, kann ich nicht sagen. Alles geht so schnell und ich habe das Gefühl, dass so viele Fragen offen sind. Aber bevor ich sagen kann, dass ich mehr Zeit brauche – kann ich das überhaupt? Ich bin doch eine Schraube – werde ich in das Zahnrad geschraubt.

Um zu verdeutlichen, was diese Geschichte mit der Überschrift zu tun hat, werden im Folgenden zwei Punkte betrachtet, die den Uni-Alltag in Göttingen am Anfang des 21sten Jahrhunderts kennzeichnen. Erstens soll es darum gehen aufzuzeigen, dass der Unialltag einer ist, der auf Leistung und Zeitmangel ausgerichtet ist und zweitens wollen wir versuchen deutlich zu machen, warum wir der Meinung sind, dass Freiräume dem etwas entgegen setzen können.

2. Zeitmangel und Abfertigung in der Infrastruktur

Bereits ein kurzer Blick über den Campus und in die Institute reicht eigentlich schon aus, um zu wissen, was gemeint ist. Die Räume und Gebäude sind so eingerichtet, dass man sich dort nicht unbedingt länger aufhalten will, als für die Scheine/Credit Points notwendig ist. Kahle Wände, unbequeme Stühle und zweckmäßige Tische. Die Uni und im besonderen das ZHG ist auf eine höchstmögliche Effizienz und einem möglichst kurzen Besuch ausgerichtet. An der Universität sollen sich Studierende aufhalten, nur nicht zum Spaß und auch nicht länger als notwendig. Das hört sich zunächst merkwürdig an, aber wenn man sich vor Augen führt, welches Ziel mit der Einführung von Bachelorstudiengängen verwirklicht wurde, erscheinen die Zusammenhänge zwischen Raum und Studium klarer. Hauptmaxime ist hier: Der kurz-möglichste Aufenthalt.

3. Die Doktrin des Zeitmangels

Zunächst wurden ohne größeren Widerstand Langzeitstudiengebühren eingeführt, um innerhalb des Rahmens der fast schon uralt anmutenden Studiengänge Diplom und Magister aufzuräumen. Dann kamen die Bachelor-/Masterstudiengänge, die von höherer Hand durchgesetzt wurden, nämlich im Rahmen des Bologna-Prozesses, und zu guter Letzt wurden im letzten Semester allgemeine Studiengebühren eingeführt, um die Uni zu dem zu machen, was sie sein soll: Einem Ort, an dem Menschen was für den Beruf lernen und sich dann schleunigst vom Acker machen sollen. Es sei denn ... sie wollen in den Wissenschaftsbetrieb. Dann dürfen sie auch 'gerne ' noch 2 Jahre länger bleiben und sich ein paar Schwerpunkte aussuchen. Studierende leiden, wie viele Menschen in dieser Gesellschaft, inzwischen unter chronischem Zeitmangel. Noch mal eben zwischendurch 'nen Nebenjob – sonst wird das Studium unbezahlbar – kurz die Klausur noch schreiben, ein Referat halten und Credit Points einsammeln. Da bleibt weder Zeit für die eigenen Interessen, noch bleibt Zeit für kritisches Nachdenken und Diskutieren. Alles muss möglichst schnell, möglichst erfolgreich abgefertigt werden und das in harter Konkurrenz mit anderen Studierenden, denn das erhöht die Karrierechancen. Expert_innen werden gefördert, die kritische Auseinandersetzung geächtet.

Vor wenigen Jahren war es tatsächlich möglich, sich während des Studiums noch an anderen Fachbereichen umzusehen. Sich Vorlesungen anzuhören über Hegel – naja, in Göttingen Frege – obwohl man Medizin studiert hat. Damit wurden Inhalte in einem breiteren Kontext vermittelt und zumindest ein Raum für geisteswissenschaftliche Fragen in der Naturwissenschaft und vice versa geboten. Das ist inzwischen Vergangenheit.1

Diejenigen, die sich heute gerne Zeit nehmen, um Zusammenhänge zu verstehen und Stress nicht als einen 'geilen Kick ', sondern als unangenehm empfinden, werden durch diese unausgesprochene Doktrin von vornherein ausgeschlossen oder sie haben sich anzupassen, wenn sie sich im universitären Betrieb über Wasser halten möchten. Diejenigen Räume, die darauf hindeuten könnten, dass Studierende oder sogar Angestellte es sich an der Universität gemütlich machen, sollen schleunigst von der Bildfläche verschwinden und jenen Räumen weichen, die dem Zeitmangel entsprechen.

4. Freiraum – denn die Zeit steht still

Damit wird deutlich, dass der Zusammenhang zwischen Studium und Raum nicht von uns erfunden wurde, denn immerhin waren 'vorausstrebende ' Universitätsleitungen dreist genug, bereits vor Jahren anzufangen, die Universität abzuschlanken, zielstrebiger zu arbeiten und unverblümter ihre Ziele zu formulieren. Früh wurden deshalb schon bestehende Freiräume als störend markiert und behandelt. Eine Schikane folgte der Anderen bis schließlich das Café Kollabs im muffigen Keller des OEC verstaut wurde. Dann wurde ein Vorwand gefunden es ganz zu schließen. Eine Schikane folgt der anderen auch im Bezug auf den 'Bunten Raum ' an der philosophischen Fakultät. Anfang des Semesters wurde der 'Bunte Raum ' geschlossen, weil angeblich die Brandschutzkriterien nicht erfüllt werden würden. Wenn den Verwaltungen sonst nichts einfällt, werden die Brandschutzkriterien angeführt. Doch würden die Verwaltungen im Zusammenhang mit anderen Räumen (Büros, Aufenthaltsräume etc.) ebenso penibel mit den Brandschutzkriterien umgehen, müsste eigentlich die gesamte Uni dicht gemacht werden. Doch der 'Bunte Raum ' ist noch einer der wenigen Freiräume an der Universität und wird durch die Univerwaltung auch als solcher betrachtet und behandelt. Und nur deshalb wurde der 'Bunte Raum ' ohne formale Vorwarnung dicht gemacht. Inzwischen ist der Bunte Raum zwar wieder offen, doch mussten die Betreiber_innen neue und strengere Auflagen erfüllen, als das bisher der Fall ist.

Das alles will nicht heißen, dass irgendwo ein 'Master Brain ' sitzt, das sich eine fiese Strategie ausdenkt, um es den Studierenden mal so richtig zu zeigen. Vielmehr handeln die Verwaltungen zeitgemäß, den aktuellen Anforderungen entsprechend.

Genau das sollte uns als Studierende jedoch Sorgen machen. Wenn Verwaltungen Freiräume als störend markieren und sie aus dem Weg räumen, weil sie 'zeitgemäß ' handeln, muss erstens etwas mit den herrschenden Verhältnissen nicht stimmen, und zweitens sollten wir uns dagegen stemmen und Freiräume als zeitgemäß hochhalten. Sie sind nämlich eine angemessene Reaktion auf den chronischen Zeitmangel, unter dem wir leiden. Räumlich bieten sie den Studierenden das, was ihnen durch die universitären Reformen verwehrt wird. Sie können die Räume selber und basisdemokratisch gestalten. Sie können sich dort aufhalten ohne formale Kriterien erfüllen zu müssen und an zeitliche Grenzen gebunden zu sein. Dass man vor einer geschlossenen Tür steht, ist bei einem Freiraum eher die Ausnahme als die Regel, ganz im Gegensatz zum alltäglichen Uni-Betrieb, wo man Türen erst eintreten muss, um sich dann noch nicht einmal wohl fühlen zu können. Im alten Kollabs standen Sofas, bequeme Sessel, es hingen Plakate an den Wänden und es strahlte das aus, was an der Uni bitter benötigt wird: das Gefühl, dass an diesem Ort die Bedingung für mein Dasein nicht meine Leistung und der Scheinerwerb ist. Das Gefühl, dass die Zeit zumindest ein paar Takte langsamer schlägt und ich mich vom Fließbandgeschehen ein bisschen erholen und nachdenken kann.

Das sind vielleicht keine verwertungslogisch objektiv gültigen Argumente, aber immerhin verhält es sich mit ihnen so, dass wir und viele, mit denen wir gesprochen haben, es ebenso empfinden. Wir finden die Forderung nach mehr Freizeit, nach mehr Selbstgestaltung und deshalb nach mehr Freiräumen nachvollziehbar und realistisch. Wir erachten sie als notwendige Bedingungen für ein selbstbestimmtes Studium und eine erträglichere Gesellschaft.


1) Im Bachelor ist zwar ein Bereich für interdisziplinäre Kombinationen vorgesehen, doch zeichnet sich die Studienstruktur eben dadurch aus, dass sie im Widerspruch zur Interdisziplinarität steht.

Erschienen am: 07.01.2008 zuletzt aktualisiert: 07.01.2008 03:14 AutorIn: email-address