Armut in Göttingen
Was darf ein Leben kosten?
Armut ist ein Thema, das in unserer Gesellschaft permanent präsent ist – nicht erst seit den Hartz-Reformen, die einen massiven Einschnitt in die Arbeitslosen-, Sozial- und Armutspolitik Deutschlands bedeuteten. So auch in Göttingen. Hier fordert(e) der Runde Tisch „Armes Göttingen“ (wann?), ein Zusammenschluss von Menschen, die versuchen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung in Göttingen voranzubringen, von der Stadt und auch vom Landkreis mehr Geld und bessere Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut. Wenigstens ein zweiter umfassender Armutsbericht solle von der Stadt vorgelegt werden. Darauf ließ man sich von Seiten der Stadt jedoch nicht ein. Das einzige Zugeständnis war die Erstellung des recht oberflächlichen „Masterplan gegen Kinderarmut“1. Da die Forderungen in der Stadt nach einem umfassenden Armutsbericht jedoch nicht nachließen, wurde am Göttinger Institut für Geographie ein Seminar durchgeführt, das es zum Ziel hatte, gemeinsam mit den Studierenden einen solchen wissenschaftlichen Bericht zu verfassen2. Dabei ging es zum einen darum, die Ursachen von Armut zu ergründen und zum anderen, die Situation in Göttingen im Kontext der BRD darzustellen und zu analysieren. Hier werden einige Ergebnisse des Berichtes vorgestellt.
Ursachen von Armut
In den meisten Armutsberichten geht es zuerst einmal darum, zu definieren, was überhaupt Armut ist: Dabei kommen häufig relative Armutsdefinitionen zum Tragen, bei denen Personen einkommensarm sind, die weniger als 50% oder 60% des durchschnittlichen Einkommens im jeweiligen Land zur Verfügung haben. Dabei handelt es sich nicht um eine Ermittlung, die am Bedarf der Leute ausgerichtet wird, sondern eher nach dem Motto handelt: Womit man sein*ihr Leben aufrecht erhalten kann, das muss auch zum Leben reichen. Es geht also nicht um die Bedürfnisse der Menschen und eine Analyse der Ursachen kommt bei solchen Armutsdefinitionen schon gar nicht in den Blick.
Was aus diesen Definitionen allerdings klar wird, ist, dass Armut in unserer Gesellschaft ein Mangel an Geld ist. Schließlich gibt es die meisten Dinge wie Nahrung, Kleidung oder eine Wohnung im Überfluss. Nur die Bedürfnisse nach ihnen können ohne Geld nun einmal nicht befriedigt werden. Um an dieses Geld zu kommen, braucht man einen Job, was wiederum voraussetzt, dass es jemande*N (z.B. ein Unternehmen) gibt, der*die Geld hat und das Arbeiten bezahlt. Ein solcher Arbeitsplatz wird aber auch nur eingerichtet, wenn er rentabel ist, d.h. wenn der zu zahlende Lohn an den*die Arbeiter*In geringer ist als die Einnahmen, die mit diesem Arbeitsplatz entstehen. Damit ist aber auch klar, dass der Lohn nicht zu hoch sein darf, denn sonst hat das Unternehmen in der Konkurrenz zu all den anderen Unternehmen keine Chance im Wettbewerb zu bestehen und Gewinne zu erwirtschaften. Ganz im Gegenteil sogar: Der Lohn sollte möglichst gering, die Arbeitskräfte möglichst flexibel einsetzbar sein.
Das hat für diejenigen, die mittels Arbeit Geld verdienen müssen, recht unangenehme Folgen: Arbeitslosigkeit und sinkende Löhne sind eine ständige Gefährdung ihrer Einkommensquelle. Sie müssen jederzeit Angst vor Armut haben. Das gilt nicht nur in Krisenzeiten, sondern auch in Boomphasen, wie die Abbildung 1 verdeutlicht. Selbst in Boomphasen sind die Unternehmen zu ständigen Steigerungen der Arbeitsproduktivität gezwungen – Rationalisierungen und Entlassungen von Arbeiter*Innen sind die Folge. Und so produzieren heute viel weniger Arbeitende einen viel größeren Reichtum als noch vor einigen Jahrzehnten. Diese Form der Produktion von Armut ist jedoch – falls dieser Eindruck entstanden sein sollte – kein Naturgesetz, sondern gesellschaftlich eingerichtet.
Der Armutsbericht konstatiert deshalb: „Reichtum braucht Armut“. Diese beiden Gegensätze gehören in einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft notwendig zusammen.
Armut in Göttingen
Im Hauptagenturbezirk Göttingen schwankt die Zahl der Arbeitslosen seit 1998 um 10.000, was einer Arbeitslosenquote von 11-15% entspricht. Im Landkreis Göttingen liegt sie etwas niedriger. Trotzdem gehört der Landkreis zu dem Viertel aller Landkreise, die die höchsten Arbeitslosenquoten in der BRD aufweisen und ist in Niedersachsen der Landkreis mit der neunthöchsten Arbeitslosenquote. Zwischen 1998 und 2008 ist auch die Zahl der Beschäftigten und der Teilzeitbeschäftigten in Göttingen annähernd gleich geblieben. Die Zahl der Beschäftigten sagt jedoch nichts über die Verdienst- und Einkommensverhältnisse aus. Zwar gibt es immer noch Tarifverträge, die die Löhne für Angestellte regeln sollten. Allerdings ist unklar, für wie viele Angestellte und Arbeiter*Innen die untersten Tariflöhne noch gelten. Viele Arbeitnehmer*Innen sind nicht gewerkschaftlich organisiert. Betriebe finden Wege außertariflich zu entlohnen und ganze Branchen, wie z.B. das Bäckereiwesen aber auch karitative Organisationen sind aus dem Tarifvertrag ausgetreten, womit unklar bleibt, wie viele Beschäftigte in Göttingen lediglich ein Einkommen knapp über Hartz IV-Niveau erhalten. Zu vermuten ist aber, dass dieser Teil nicht ganz unerheblich ist.
Der Anteil der von Armut betroffenen Bevölkerung ist innerhalb der Stadt Göttingen, aber auch innerhalb der Altersgruppen sehr unterschiedlich. Indizien dafür liefern die Zahlen der Sozialleistungsempfänger*Innen und der Sozialleistungsdichte (Sozialhilfedichte). Wird die Altersstruktur betrachtet, so ist über die Hälfte der Sozialleistungsempfänger*Innen zwischen 25 und 60 Jahre alt. Ein anderes Bild ergibt sich dagegen bei der Untersuchung der Sozialhilfedichten (Abbildung 2). Hier sind die Kinder die am stärksten betroffene Gruppe. Von den Kindern unter sechs Jahren bezieht jedes vierte Sozialleistungen vom Staat, bei den Schulkindern bis zwölf Jahren ist es immerhin noch jedes fünfte. Die Tendenz bei den Kindern (bis 18 Jahre) ist hier in den letzten 15 Jahren beständig und stark steigend. Bei den Erwachsenen ist besonders die Altersgruppe zwischen 30 und 60 Jahren von einer hohen Sozialhilfedichte betroffen. Auch hier hat es seit 1994 einen deutlichen Anstieg gegeben.
Die räumliche Verteilung der Sozialleistungsempfänger*Innen (Abb.3) entspricht auf den ersten Blick der in der Öffentlichkeit häufig beschriebenen Teilung der Stadt in Weststadt (Holtenser Berg, Industriegebiet Weende, Leineberg, Grone-Süd) und übrige Stadt, denn die Weststadt weist einen besonders hohen Anteil an Sozialleistungesempfänger*Innen auf. Hier beziehen zum Teil 29-32% der Einwohner*Innen Sozialleistungen.
Ein solches immer wieder benutztes Bild der „Weststadt“ oder „Grone“ als Stadtteil mit sozialen Problemen und Armut ist allerdings höchst problematisch. Nicht nur, dass es die Verteilung der Sozialleistungsempfänger*Innen nicht korrekt beschreibt - ein solches (Raum-)Bild konstruiert einen Zusammenhang, der gar nicht vorhanden ist. Attribute wie Armut oder „sozialer Brennpunkt“, die man einem solchen Gebiet zuschreibt, sollen auf alle Menschen zutreffen, die in einem solchen Stadtteil leben. Solche Klischees und willkürlichen Zuschreibungen bewirken nicht nur eine Stigmatisierung von Menschen, sie tragen auch zur Herstellung sozialer und räumlicher Strukturen bei. Sie schaffen auf diese Weise soziale Ausgrenzung, Abwanderung, vermehrte polizeiliche Kontrolle, Kriminalität und Veränderungen im Wohnungsmarkt.
Aber eben nicht nur die „Weststadt“ und „Grone“ haben eine hohe Sozialhilfedichte, sondern auch etliche andere Stadtgebiete, so etwa Weende, die Nordstadt oder die Südoststadt/Geismar. Zudem würden sich bei der Anlegung kleinerer räumlicher Maßstäbe ganz andere räumliche Muster ergeben. Daher sollten lieber Gebiete betrachtet werden, die nur wenige Sozialleistungsempfänger*Innen beherbergen. Das sind nur noch zwei Zonen: der Nordostsektor mit dem Ost- und Universitätsviertel und der Stadtrand (eingemeindete Dörfer, Neubaugebiete in Weende-Nord und im Süden von Geismar). Ein großer Teil der Stadt ist also von Armut betroffen!
(Lokale) sozialstaatliche Wohnungspolitik
Im Folgenden soll noch exemplarisch der Umgang des (lokalen) Sozialstaates mit seinen Bürger*Innen anhand der Wohnungspolitik dargestellt werden.
Seit den Hartz-Reformen erhalten Empfänger*Innen von Grundsicherung kein Wohngeld mehr, sondern die tatsächlichen „Kosten der Unterkunft“, wenn diese Kosten „angemessen“ sind. Wer diese angemessenen Höchstbeträge übersteigt, muss umziehen (für gewöhnlich innerhalb von 6 Monaten) oder bekommt nur noch die „angemessenen“ Kosten der Unterkunft erstattet. Das unterstellt allerdings gleichzeitig, dass genügend „angemessene“ Wohnungen in der jeweiligen Region vorhanden sind. Was jedoch „angemessen“ ist und was nicht, wird vom (Bundes-)Gesetzgeber nicht definiert und stattdessen den Kostenträgern überlassen (im Fall Göttingen ist das der Landkreis). Das ist so gewollt, um den lokal vollkommen unterschiedlichen Wohnungsmarktverhältnissen gerecht werden zu können, hat allerdings zur Folge, dass die Kommunen bzw. die jeweiligen Kostenträger unterschiedlichste „Angemessenheitskriterien“ zugrunde legen.
Der Landkreis Göttingen als Leistungsträger hat bei der „Angemessenheit“ die gleichen Kriterien wie beim Wohngeld zugrunde gelegt. Die Stadt Göttingen bezweifelt jedoch, dass diese Höchstgrenze ausreichend ist, da sie davon ausgeht, dass nicht genügend angemessene Wohnungen in Göttingen verfügbar sind. Deshalb hat sie gefordert, den Höchstbetrag der Wohngeldtabelle um 20% für das Stadtgebiet Göttingen zu erhöhen, um so den Umzugsdruck auf die Grundsicherungsempfänger*Innen zu senken. Der Landkreis lehnte diese Forderung allerdings strikt ab. Darauf folgte eine Auseinandersetzung zwischen Landkreis und Stadt Göttingen, die jedoch weniger um die Sache der besonderen Wohnungsmarktverhältnisse in Göttingen ging, als vielmehr darum, wer die zusätzlichen Kosten tragen solle. Die Göttinger Wochenzeitung berichtete am 03.02.2006 gar: Die Sozialdezernenten von Stadt und Landkreis „schieben sich unter Verweis auf unterschiedliche Zuständigkeiten den schwarzen Peter zu“.
Um ihre Forderungen zu untermauern, hat die Stadt Göttingen ein Gutachten zum Angebot von Mietwohnungen und zur Mietenstruktur in Göttingen in Auftrag gegeben. Das Gutachten stellt fest, dass den 800 Haushalten in „unangemessenen“ Wohnungen nur 250 „angemessene“ verfügbare Wohnungen gegenüber stehen. Dieses Gutachten wurde jedoch vom Landkreis als unwissenschaftlich angefochten und damit verworfen. Der Landkreis Göttingen, immer noch fest entschlossen nicht mehr für die Empfänger*Innen von Grundsicherung ausgeben zu wollen, plädierte darauf hin für ein neues Gutachten, das im März dieses Jahres veröffentlicht wurde. Dieses Gutachten hält die Mieten der Wohngeldtabelle für Göttingen in jedem Fall für angemessen und stellt sogar fest, dass die Kosten eher zu hoch angesetzt seien. Dieses Gutachten wird, sofern es rechtlich anerkannt wird und nicht ebenfalls an wissenschaftlichen Standards scheitert, zur Folge haben, dass für einen Großteil der Grundsicherungsempfänger*Innen die Kosten der Unterkunft gesenkt werden. Diese müssen dann in eine günstigere Wohnung ziehen, egal, ob es überhaupt genügend verfügbare Wohnungen in der Stadt Göttingen gibt oder nicht. Faktisch bedeutet das, da wahrscheinlich nicht genügend „angemessene“ Wohnung verfügbar sind, dass sie (weitere) Teile der ohnehin sehr niedrigen staatlichen Grundsicherung für Miete ausgeben müssen. Häufig führt das dazu, dass beim Essen oder an der Kleidung gespart wird, wie eine Betroffene im Armutsbericht schreibt.
Was daran aber deutlich wird ist, dass es weder in der Wohnungspolitik noch in der Sozialpolitik darum geht die (grundlegendsten) Bedürfnisse von Menschen zu beachten oder gar zu befriedigen. Die Verhandlungen drehen sich immer um abstrakte Kriterien, denen sich alle zu unterwerfen haben. Wie im Fall der „Kosten der Unterkunft“ geht es hauptsächlich darum, die Kosten für diese ‚sozialen’ Maßnahmen möglichst gering zu halten – der Kampf spielt sich eher um deren Verteilung ab. Die Menschen und ihre Bedürfnisse bleiben dabei auf der Strecke.
1) http://www.goettingen.de/staticsite/staticsite.php?menuid=1129&topmenu=308
2) H. D. v. Frieling: „Armut und Agenda 2010 in Göttingen – Ein kritischer Armuts- und Reichtumsbericht“. Abrufbar unter: http://webdoc.sub.gwdg.de/pub/mon/2009/frieling.pdf