Bist du Deutschland?

Kommenter

Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendein neunmal kluger Kommentator dieser oder jener Nachrichtensendung sich mit einer Moralpredigt über die Flimmerkiste ergießt: Sie erzählen uns, wie wichtig es doch zu betonen sei, dass wir jetzt einmal „alle anpacken” müssten, ja jeder „seinen Beitrag leisten” müsse, um „unser Land” endlich wieder voran zu bringen. Auch das Vokabular wird immer eindeutiger: Von „Stolzsein auf Deutschland” und „nationaler Verantwortung” ist da die Rede.

Auch die Politik entblödet sich nicht, jedes Argument für oder gegen dieses oder jenes Konzept über den Nutzen für den heiligen „Standort Deutschland” zu vermitteln: Hartz IV und ALG II, Studiengebühren, der Bachelor und Billiglöhne, das alles mag zwar für den/die EinzelneN ein wenig unangenehm sein, aber wenn es „für 's Vaterland” nunmal sein muss, stehen die Bedürfnisse des/der Einzelnen nunmal hinten an. „Besitzstandswahrer” und „ewig Gestrige”, so lautet dann die Bezeichnung für diejenigen, die nicht so recht in die nationalistische Duselei mit einsteigen wollen.

Für den erneuten organisierten Angriff auf die noch nicht vollständig in Euphorie für das gelobte Vaterland aufgelösten Teile der Bevölkerung rüsten sich jetzt die deutschen Medienunternehmen von ARD über Springer bis Bertelsmann in Verbund mit einer Sammlung von Prominenten mit der nach eigenen Angaben „größten Social Marketing Kampagne in der deutschen Mediengeschichte”: „Du bist Deutschland”, so der idiotische Slogan der Kampagne, die mit einem Volumen von 30 Millionen Euro „Motivation durch Gefühle” (Western Star) und „Optimismus, Veränderungsbereitschaft, Kreativität und Spaß” (Axel Springer) in die Bevölkerung streuen soll.

Wozu das Ganze? Damit die Stimmung entsteht, „wenn nötig auch auf Privilegien verzichten” (Edgar Medien AG im Medien-Infopaket). Wir sollen uns also eins fühlen mit dem Konstrukt von der Nation, diesem Deutschland. Im Rausch von „Optimismus” und bedingungsloser Liebe zum geliebten Lande werden die persönlichen Leiden dann auch gar nicht mehr spürbar und jede soziale Schweinerei völlig bedeutungslos: Ich bin schließlich nicht mehr ich, ich bin Deutschland. Geht es Deutschland gut, geht es mir gut. Auch wenn ich eigentlich gerade bis zum Erbrechen in Billigjobs rackere, mein Studium wegen zu hoher Studiengebühren abbreche oder im Arbeitsamt um ein paar Cent ALG II bettele –„Das Leben schmeckt halt nicht nach Zuckerwatte” (aus dem Manifest der Kampagne).

Warum aber nun gerade das sinnvoll sein soll, wird dabei nicht verraten. Stimmig soll es schlicht dadurch werden, dass es so lange wiederholt wird, bis alle in den Taumel mit einstimmen. Es knüpft dabei an ein in der bürgerlichen Ideologie tief verankertes nationalistisches Weltbild an, also an die Vorstellung, dass sich die Menschheit natürlicher- oder zumindest sinnvollerweise in viele große „Völker”, „Nationen” oder „Standorte” aufteilt, innerhalb derer es zwar vielleicht ein paar Streitigkeiten gibt, aber man, wenn es drauf an kommt, doch kollektiv füreinander gegen den Rest der Welt Gewehr bei Fuß steht: Da soll sich also eine ALG II-Bezieherin mit dem erfolgreichen Top-Manager solidarisch fühlen, weil dieser nicht zufällig ein paar Kilometer weiter hinter der Grenze geboren wurde. Dabei sollte man meinen, dass diese Nationalstaaten, die erst im 18. Jahrhundert entstanden sind, bereits spätestens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Genüge bewiesen haben sollten, dass diese Idee besser ganz schnell wieder auf den Müllhaufen der Geschichte gehört.

Für diejenigen, deren Individualität sich noch nicht in einem Konstrukt „Volk” oder „Nation” aufgelöst hat, kann in diesem Sinne nur der Umkehrschluss gelten: Wenn es „für die Nation” notwendig ist, seine individuellen Interessen dermaßen einzuschränken, dann gehört die Nation eben abgeschafft.

Erschienen am: 10.10.2005 AutorIn: email-address