Die Auseinandersetzung ums Autonomicum und die Rache der Behörden

Keine Beweise, nachweisbare Falschaussagen, entlastendes Material wird von der Polizei einfach gelöscht – trotzdem wird ein Göttinger Aktivist zu 120 Tagessätzen verurteilt und gilt damit als vorbestraft. Wie konnte es dazu kommen? Wie geht es weiter? Was können wir tun?

Die Vorgeschichte: Erkämpfung des Autonomicums

Während des Bildungsstreiks wurde das Autonomicum intensiv genutzt. Als Ort um sich zu treffen, zu diskutieren, um Material zu lagern oder sich einfach nur auszutauschen. Auch in anderen Kontexten finden hier viele Treffen statt, z.B. aktuell um den Widerstand gegen die Abschiebung der Roma zu koordinieren. Das Autonomicum ist nicht von allein entstanden. Vorausgegangen war diesem eine lange Auseinandersetzung, die schließlich in einer Besetzung gipfelte. Am Morgen des 29.01.2008 räumte die Polizei, auf Anweisung des Präsidiums und mit Zustimmung des ADF-AStAs, den besetzten Raum MZG 1140 an der Uni. Am Abend desselben Tages fand eine entschlossene Spontandemonstration mit über 300 Personen statt. Diese musste gegen die z.T. massive Gewalt der Polizei durchgesetzt werden, die immer wieder die Versammlungsteilnehmer_innen attackierte. Der Protest war ein kraftvolles Signal an das Präsidium, das bereits am nächsten Tag neue Verhandlungen über ein selbstverwaltetes Café anbot. Das Ergebnis dieser Verhandlungen ist das Autonomicum. Es folgte ein juristisches Nachspiel. Nicht für die Polizei, die mehrere Demonstrant_innen durch Tritte und Schläge verletzt hatte, sondern für einen Teilnehmer der Demo. Er wurde aufgrund eines angeblichen Angriffs auf einen Polizeibeamten wegen Landfriedensbruchs angeklagt.

Der Prozess: keine Beweise und viele verschwundene Videos

Angesichts des Prozessverlaufs erscheint das Ergebnis zunächst absurd. Lediglich ein Polizist belastete den Angeklagten direkt, behauptete, ihn in der fraglichen Situation erkannt zu haben und von ihm angegriffen worden zu sein. Die übrigen fünfzehn Beamt_innen, die im Prozessverlauf auftraten, beschrieben nur die Gesamtsituation. Dabei hatten sie sich allerdings mehr als offensichtlich abgesprochen, ihre Darstellungen glichen sich teilweise sogar in der Wortwahl. Eine Beamtin gab zu, vor ihrer Aussage mit allen beteiligten Beamt_innen noch einmal gesprochen zu haben. Kein leichtes Unterfangen, sind diese doch inzwischen über Dienststellen in ganz Niedersachsen verstreut. Trotz dieser intensiven Vorbereitung konnte keine_r von ihnen die Aussage des Hauptzeugen stützen. Obwohl mehr als motiviert, war die Staatsawaltschaft während des gesamten Prozesses nicht in der Lage, irgendwelche Belege für dessen Behauptungen vorzubringen. Dafür hatte man sich aber sehr darum bemüht, sämtliche Gegenbeweise verschwinden zu lassen. Gleich mehrere Polizeivideos wurden von den Einsatzkräften mutwillig gelöscht und ihre zeitweilige Existenz in den vorgelegten Akten nicht einmal erwähnt. Erst durch die eingehende Befragung der Polizeizeug_innen wurde deutlich, in welchem Umfang hier wichtige Daten vernichtet wurden. Auch Aufnahmen, auf denen die fragliche Situation nach Aussage einer Polizistin eindeutig enthalten gewesen sein muss, wurden von den zuständigen Beamt_innen in weiser Vorraussicht ohne Aktenvermerk gelöscht.

Trotz dieser Gründlichkeit konnte die Aussage des Belastungszeugen in wesentlichen Punkten erschüttert werden. Sowohl andere Zeug_innen als auch die verbliebenen Videos belegten eindeutig, dass der Hauptzeuge nachweislich falsche Angaben zur Kleidung des Angeklagten gemacht hatte. Dem Richter genügte die also in Teilen nachweisbar falsche und durch keine Belege gestützte Aussage des einzigen Belastungszeugen dennoch. Nach anderthalb Jahren könne man sich ja auch nicht mehr an alles erinnern, begründete der Richter seine Entscheidung, den Angeklagten nicht – wie unter diesen Umständen eigentlich zu erwarten wäre – freizusprechen, sondern ihn stattdessen zu einer hohen Geldstrafe (120 Tagessätze) zu verurteilen. Angesichts dieses unbedingten Verurteilungswillens spielte es offensichtlich auch keine Rolle, dass der Belastungszeuge den Angeklagten nicht erst im Prozess, sondern bereits unmittelbar nach der Demo falsch beschrieben hatte.

Ein politisches Urteil in einem politischen Prozess: Solidarität ist notwendig

Der Prozess stellte selbst nach Kriterien bürgerlichen Rechts eine Farce dar. Von einem unzweifelhaften Nachweis, dass der Angeklagte die ihm zu Last gelegte Tat begangen hat, kann hier nicht ansatzweise die Rede sein. Das ganze Verfahren war geradezu ein Musterbeispiel eines politischen Prozesses. Nach einer sehr erfolgreichen Demo, die der lokalen Linken erheblichen Auftrieb gab, waren Polizei und Justiz offenbar mehr als motiviert, der widerständigen Bewegung schnellstmöglich wieder die Flügel zu stutzen. In enger Zusammenarbeit von Staatsschutz und Bereitschaftspolizei wurde daher das Verfahren gegen den Angeklagten eingeleitet, der der politischen Polizei bereits seit Jahren als Aktivist bekannt, sowie dem Hauptbelastungszeugen schon zu Beginn der Demo auf die Nerven gegangen war, weil er sich gegen die Übergriffe der Einsatzkräfte lautstark zur Wehr setzte. Der Richter und die Staatsanwaltschaft erfüllten die ihnen zugedachte Funktion vorbildlich und lieferten ein Lehrstück in Gewaltenteilung, indem sie die polizeilichen Behauptungen umstandslos übernahmen. Unmissverständlich machten sie wieder einmal klar: Für die Verurteilung linker Aktivist_innen reicht die Aussage eines Polizisten und sei sie noch so widersprüchlich oder angreifbar.

Wirklich überraschen kann das Urteil daher nicht, es gliedert sich ein in eine lange Reihe ähnlicher Entscheidungen gegen Aktivist_innen linker und sozialer Bewegungen. Hier geht es nicht um die Findung einer irgendwie gearteten „Gerechtigkeit“, sondern um die Aufrechterhaltung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse und die Einschüchterung von Bewegungen, die diese nicht unwidersprochen hinnehmen. In dieser inhaltlichen Zielsetzung stimmen solche Urteile also mit der Gesetzgebung durchaus überein und sind letztlich ihre logische Erweiterung. Formal-rechtlich besteht hier dennoch ein eklatanter Widerspruch, da in diesem Fall gesetzlich eben der Nachweis der individuellen „Schuld“ vorgesehen ist. Der verurteilte Aktivist hat deshalb Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt. Jegliche Hoffnungen, dass höhere Instanzen emanzipatorischen Anliegen gegenüber aufgeschlossener sind, müssen aber leider als völlig unbegründet zurückgewiesen werden. Wir selbst müssen dafür sorgen, dass das Urteil diesmal in unserem Sinne ausfällt. Im Januar 2008 haben wir zusammen genug Druck aufgebaut, um die Einrichtung des Autonomicums zu erkämpfen. Wir müssen jetzt zusammen diesen Druck wiederherstellen, um eine erneute Verurteilung zu verhindern. Die Demo für das Autonomicum ist vielen von uns in guter Erinnerung, weil sie ein kurzer Ausbruch aus der alltäglichen Ohnmacht war; ein winziger Moment, in dem nicht Polizei und Gesetze darüber entschieden haben, wie wir handeln, sondern wir selbst. Die örtlichen Behörden haben die kurzzeitig aufkommende Euphorie sehr genau registriert und mit dem Gegenangriff nicht lange gewartet. Sie haben in der bekannten Weise versucht uns einzuschüchtern, einzelne zu isolieren und auszuschalten sowie uns in „friedliche“ und „gewaltbereite“ Demonstrant_innen zu spalten. Die nächste Spontandemo wurde mit massiver Repression, Einsatz von Knüppeln und Pfefferspray überzogen, fast alle Teilnehmer_innen erkennungsdienstlich behandelt und wegen Landfriedensbruchs angezeigt.

Nur wenn wir kollektiv und solidarisch agieren, können wir verhindern, dass diese Strategie Erfolg hat. Beim ersten Prozess waren bereits viele von uns anwesend und haben sich mit dem Angeklagten solidarisiert. Für das kommende Verfahren (und andere ebenfalls noch anstehende Prozesse) muss diese Unterstützung noch ausgeweitet und in ihren Formen vielfältiger werden. Wir lassen unsere Genoss_innen nicht im Stich! Solidarität ist eine Waffe!

Erschienen am: 11.10.2009 zuletzt aktualisiert: 11.10.2009 18:56 AutorIn: email-address