Der Schrei nach Toleranz

Toleranz ist ein Begriff, der uns immer wieder begegnet: „Immer die, die am lautesten nach Toleranz schreien tolerieren andere Meinungen am wenigsten!” Aber ist das wirklich so? Fordern „die Linken” so vehement mehr Toleranz?

Eher ist dies ein Vorurteil, das sich aus unterschiedlichen Gründen in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat. Dabei widerspricht die Forderung nach allgemeiner Toleranz vielmehr dem Anspruch nach „allgemeiner Wahrheit”.

Wie zweifelhaft auch immer dieser Begriff der „allgemeinen Wahrheit” sein mag, so ist er hier so gemeint, dass es allgemeingültige Werte gibt, über die sich nicht streiten lässt, wie z.B. jemanden töten ist per se schlecht. Also sollte nicht toleriert werden, dass jemand von jemandem umgebracht wird. So gibt es einige Dinge, die nicht zur Frage stehen und für die es zu kämpfen gilt – so überhaupt nicht im Sinne der Toleranz.

Toleranz als Mittel zur Verfestigung von Vorurteilen

Toleranz bedeutet z.B. die Anerkennung der Differenz, die oft nur ein Vorurteil ist. Wenn man Toleranz gegenüber „Ausländern” fordert, unterstellt man damit eine Differenz zwischen vermeintlich homogenen Gruppen. Aber wer ist denn „Deutscher”? Leute mit deutschem Paß, oder doch nur die, die „deutsches Blut” in ihren Adern fließen haben? Wieso also sollten wir nach Toleranz schreien, wenn wir gar nicht wissen, was wir eigentlich tolerieren sollen?

Toleranz als Abwehrmittel

Oft wird Toleranz als Freibrief benutzt, sich nicht mit unliebsamen und unbequemen Themen auseinander setzen zu müssen. Mit ihrer Hilfe wird die Aussage von jemandem unantastbar, weil dieser sich immer wenn ihm die Argumente ausgehen, sich auf seine Meinung berufen kann und einfordern kann dies zu tolerieren. Sobald diese „Meinung” dann in Frage gestellt wird, sind diejenigen die sie angreifen intolerant. In diesem Fall ist die Forderung nach Toleranz etwas sehr pluralistisches und liberales – im Vordergrund steht nicht mehr die Lösung des Konflikts, sondern nur noch der Austausch von Unverbindlichkeiten.

Anstatt aber einfach nur inhaltslos auf Toleranz zu pochen, sollten Aussagen in einem Rahmen zur Debatte stehen dürfen, um sie immer wieder überdenken und korrigieren zu können. Hier wird es kompliziert: einerseits braucht es eben so viel Toleranz, dass eine Debatte möglich ist und über den Inhalt gestritten werden kann, doch sind die allgemeinen Maßstäbe, an denen der Inhalt gewertet wird, nicht zu vergessen.

Sobald Toleranz nämlich der Verschleierung und damit auch der Verfestigung der bestehenden Herrschafts– und Machtverhältnisse dient, verliert sie ihren emanzipatorischen Charakter. Es gibt eben auch Aussagen, die über eine Grenze hinaus gehen und bekämpft werden müssen, sowie z.B. klar sexistische, rassistische, antisemitische und faschistische Aussagen, die keinen Raum bekommen dürfen. Hätte man die Nazis vor 1933 bereits bekämpft und nicht toleriert wäre es nicht zum 3. Reich gekommen.

Wenn man also davon ausgeht, dass es allgemeingültige Werte gibt und von ihnen überzeugt ist, muss man Aussagen, Veröffentlichungen und Strukturen, die über eine Grenze hinausgehen, ganz klar bekämpfen und darf diese nicht tolerieren!

Toleranz als Alibi für den repressiven Staat

Toleranz stützt die repressive Gesellschaft, indem sie das Bedürfnis der Menschen nach Freiheit bedient. Die Bevölkerung fühlt sich frei zu sagen und zu denken, was sie will: immerhin wird man nicht direkt eingesperrt, wenn man sich z.B. öffentlich gegen die Regierung äußert, solange diese Kritik bei einer konsequenzlosen Meinungsäußerung stehen bleibt.

Indem Freiheit suggeriert wird nimmt die vermeintlich demokratische Gesellschaft den Menschen jegliche Handlungsnotwendigkeit – warum Freiheit erkämpfen, wenn ich doch frei bin? Aber wenn alles einschließlich der Intoleranz und Repression toleriert wird, schafft die Toleranz sich und damit wiederum die Freiheit selbst ab.

Der Parlamentarismus z.B. wird gar nicht in Frage gestellt. Man kann ja in eine Partei gehen, die seine Interessen vertritt und versuchen etwas zu verändern. Dass damit aber schon eine Struktur anerkannt wird, die grundsätzlich in Frage gestellt werden muss, fällt gar nicht mehr auf. Denn jede Politik im Rahmen des parlamentarischen Systems unterwirft sich von vorne herein ökonomischen Sachzwängen, die dann nur noch verwaltet werden können. Dieses System wurde so verinnerlicht, dass es fast wie ein Naturgesetz hingenommen wird; ungeachtet der Tatsache, dass dem geschichtlich sehr leicht mit einem Gegenbeweis begegnet werden kann. Die letzten Jahrhunderte mit ihren gesellschaftlichen Umbrüchen zeigen, dass Gesellschaft immer neu gestaltet und radikal verändert werden kann. Interessant dabei ist, dass dies fast jeder auch eigentlich weiß und wenn es ernst wird, dann doch wieder schnell vergisst.

Die Fassade der freien Gesellschaft wird also durch diese falsche Toleranz aufrechterhalten, dass aber in dieser parlamentarischen Demokratie strukturell Minderheiten unterdrückt werden, wird dabei ganz übersehen. Grundsätzlich werden durch Mehrheitsbeschlüsse die Bedürfnisse unterschiedlicher Minderheiten übergangen.

Grenzen der Toleranz

Selbstverständlich muss es innerhalb eines Rahmens Toleranz geben, um damit die Diskussion um Positionen erst möglich zu machen, doch muss der Rahmen dafür erstmal geschaffen werden.

Angenommen es gibt eine Veranstaltung, auf der sowohl ein Politiker von z.B. der SPD über „Ausländerpolitik” spricht als auch eine Person, die antirassistische Arbeit macht. Der Politiker hat gar keinen Grund sich die Argumente der anderen Seite nicht anzuhören, da sie für ihn keine Handlungskonsequenz darstellen – er kann danach weiter seine Politik verfolgen und Abschiebungspapiere unterschreiben. Die andere Person muss erst mal viele Leute überzeugen mit ihr zusammen zu arbeiten, um ihr Ziel erreichen zu können.

Dies ist umso schwieriger da selbst bei gleicher Redezeit dem Politiker mehr Glauben und Aufmerksamkeit geschenkt wird. Er wirkt seriöser und stellt eine Autorität dar. Und das nicht, weil er mehr Ahnung hat, sondern da die Gesellschaft so strukturiert ist, dass alle Menschen bestimmte Merkmale verinnerlicht haben, die jemand erfüllen muss, damit er für sie glaubwürdig ist, wie z.B. akademische Abschlüsse, Titel, Positionen usw.

Um also die Grundlage für eine gleichberechtigte Diskussion und damit einen sinnvollen toleranten Umgang zu schaffen, muss man zuerst eine Struktur abschaffen, die diese unmöglich macht.

Die Grenzen, innerhalb derer Toleranz nur stattfinden kann, können selbstverständlich nicht statisch sein – auch sie müssen immer wieder am Konkreten diskutiert werden und können nicht abstrakt gefasst werden, da man sonst keiner Situation gerecht werden kann. Vielmehr fordert jede eine eigene Betrachtung, daher muss es Kriterien geben, anhand deren die Diskussion geführt werden muss. Wenn es z.B. darum geht, eine Veranstaltung zu kritisieren, die möglicherweise sexistisch ist, muss man sich vorher damit auseinandergesetzt haben, was Sexismus ist und wie er sich äußert. Auf dieser Grundlage lässt sich dann diskutieren, ob diese tatsächlich nicht zu tolerieren ist.

So kann die Forderung nach Toleranz niemals indifferent bleiben, sondern es sollte deutlich sein, dass Toleranz, die nicht in Repression umschlagen soll, immer wertend sein muss!

Erschienen am: 12.07.2006 AutorIn: email-address