Kompetente Inkompetenz

Im folgenden Artikel setzen wir uns mit der durch die Bolognareform in den Vordergrund gerückten Beschäftigungsfähigkeit der Studierenden auseinander. Die Förderung der ‘Employability‘ ist neben der Schaffung eines gemeinsamen europäischen und international wettbewerbsfähigen Hochschulraumes und der Erhöhung der Mobilität der Studierenden eine der Hauptintentionen des Bolognaprozesses. Schlüsselkompetenzen, Fachkompetenzen, soziale Kompetenzen u.v.m. stellen die Pfeiler des neoliberalen Bildungsideals dar.

Seit Bologna soll es die primäre Aufgabe der Hochschulen sein, die arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen der Studierenden zu stärken und zu entwickeln. „Der Bologna-Prozess steht für eine Verschiebung der Perspektive von einer auf die Darstellung von Inhalten ausgerichteten Lehre auf die Kompetenzgewinne der Lernenden und die Strategien, mit denen Lernprozesse angeregt und begleitet werden („Shift from Teaching to Learning“).“1 Bestimmend soll nicht mehr sein, welches Wissen in den Seminaren und Vorlesungen behandelt wird, sondern welchen ‘output‘, in Form von Kompetenzgewinnen der Studierenden, die Lehrveranstaltungen abwerfen.

Statt freier und unabhängiger Wissenschaft, die sich an den Fragestellungen der jeweiligen Thematik orientiert, sollen den Studierenden nur noch Fähigkeiten vermittelt werden, die sie unmittelbar gewinnbringend in der beruflichen Praxis anwenden können. „Künftig werden die Universitäten ihr Aufgabenverständnis dahingehend erweitern müssen, dass auch sie einen großen Teil ihrer Absolventen gezielter als bisher darauf vorbereiten, wissenschaftliche Kenntnisse und Fertigkeiten in Beschäftigungskontexten außerhalb der Forschung anzuwenden.“2

Bildungsziel Kompetenz?

Zentral für die Transformation des Bildungssystem zu einem berufsorientierten Ausbildungssystem ist der Begriff der Kompetenz. Unter Kompetenzen „versteht man nicht das Verhalten selbst, sondern die bei den Schülerinnen und Schülern verfügbaren oder von ihnen erlernbaren kogntiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, die notwendig sind, um bestimmte Probleme bzw. Aufgaben lösen zu können“3 und „die damit verbundenen motivationalen, volitionalen [= willentliche Steuerung von Handlungen und Handlungsabsichten; BG Philo] und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“4. Dieser zurechtgeschneiderte Sammelbegriff umfasst also alle Erwartungen, die die Wirtschaft an zukünftige Arbeitskräfte stellt.

Den Schulen und Hochschulen, die in Zukunft hauptsächlich Kompetenzen vermitteln sollen, kommt somit die Aufgabe zu, nicht nur Techniken und Methoden zu lehren, sondern die Schüler auch psychologisch in die Lage zu versetzen, mit den sozialen, beruflichen und technologischen Veränderungen schrittzuhalten .(Wohlgemerkt heißt es in den Bekundungen der Politik stets nur ‘schritthalten‘ oder ‘Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen‘. Dabei wird unterschlagen, dass es weitaus wichtiger ist, dass Bildung den Menschen in die Lage versetzt, Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen zu üben und ihre Veränderung zu bewirken. Bildung ist keineswegs nur dazu da, dem Menschen ‘verstehen‘ zu machen, warum die Dinge so sind, wie sie sind.)

Die Orientierung an Kompetenzen und standardisierten Bildungszielen wurde wichtig, da die Industrie heutzutage nicht mehr in erster Linie auf fleißige Fließbandarbeit getrimmte Menschen benötigt, sondern hochmotivierte und -adaptive Arbeitskräfte, die unter vorgegebenen Zielsetzungen ihre Aufgaben mit Engagement erfüllen. So forderte der European Round Table of Industrialists (ERT) schon 1994 in einer Broschüre, die für den Bolognaprozess von entscheidender Bedeutung war, „that the product of this Education Chain should be well-rounded individuals with a wide rather than deep knowledge and skill base, trained to learn how to learn and to be motivated always to learn more.“5 „Employers need people with self-discipline who can adapt to continuing change and meet endless new challenges.“6

Pisa als Vorwand

Mit der PISA-Studie der OECD von 2003 wurde in Deutschland die Diskussion über Bildungsstandards angestoßen. Diese sehen vor, dass der Staat feste Bildungsziele in Form von Kompetenzanforderungen definiert, die von den einzelnen Schulen erfüllt werden sollen. Ein Schwerpunktprogramm «Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen» der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) arbeitet derzeit unter der Leitung von Prof. Dr. Eckhardt Klieme, der bereits 2003 für die Kultusministerkonferenz (KMK) und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Expertise «Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards» schrieb, an der Entwicklung von «Kompetenzmodellen».

„Der Messung von Kompetenzen kommt [...] eine Schlüsselfunktion für die Optimierung von Bildungsprozessen und für die Weiterentwicklung des Bildungswesens zu. Von der pädagogisch-psychologischen Forschung wird erwartet, dass sie entsprechende Meßverfahren bereitstellt als Basis für Förder-, Platzierungs- und Auswahlentscheidungen für Beratung und Zertifizierung von Lernenden, aber auch für die Evaluation von pädagogischen Maßnahmen und Institutionen, sowie die laufende Beobachtung der Qualität von Bildungssystemen und ihrer gesellschaftlichen Wirkungen.“3 Zudem dient die Neufassung des Bildungsbegriffs als „pragmatische Antwort auf die Konstruktions- und Legitimationsprobleme traditioneller Bildungs- und Lehrplandebatten.“7 Einfache und einleuchtende Definitionen, die eindeutig festlegen, wozu die ganze Bildung gut sei und was dabei herausspringt, erhöhen die Akzeptanz: Bildung ist eine Investition in Dein Humankapital. „Der Kompetenzbegriff ist zentral für empirische Studien, die sich mit der Entwicklung von Humanressourcen und der Produktivität des Bildungswesens befassen.“3

Nicht zuletzt ist die Intention ausschlaggebend, Bildung mess- und überprüfbar zu machen. Kompetenzen, da sie „praktischerweise“ in Form eines ‘can-do statements‘, vorliegen, können durch leicht generierbare sets von Schulaufgaben, einfach abgefragt werden. Mithilfe überregionaler Tests wird ein breites Bildungsmonitoring installiert, das die Qualität der Schulen und der Schüler misst, überwacht und sichert. „Aus einer Nutzerperspektive sollen diese Kompetenzmodelle und Meßinstrumente künftig erlauben, bildungsbezogene Entscheidungen über Einzelpersonen besser als bisher vorzubereiten.“8

Bologna zu Bolognese

Es gilt die Bologna-Reformen grundlegend zu hinterfragen und ihre Grundannahmen in Frage zu stellen: Wem nutzt die Erhöhung der Employability der Studierenden wirklich? Sind die Interessen der deutschen Wirtschaft mit den derjenigen, die in Schule und Uni die Bank drücken, identisch? Ist eine unabhängige Wissenschaft nicht viel wertvoller für die Gesellschaft? Der Begriff Kompetenzförderung ist nicht äquivalent mit einer Verbesserung der Lehre, sondern Schlagwort eines politischen Programms: der durch Psychologie und Pädagogik optimierten Ausbeutung des Menschen im Sinne des Kapitalismus.

Imke Buß, ehemalige fzs-Vorsitzende und jetzige ADF-Außenreferentin im AStA, preist die Bolognareform an: Nur die Umsetzung sei das Problem und die Reform im Grunde fabelhaft. Dem ist entschieden zu widersprechen. Die Standardisierung der Lehrpläne und die Abrichtung der Studierenden zum wirtschaftlichen Heizmaterial liegt in der Absicht des Bachelorsystems. Nicht umsonst spielten die Interessen des ERT eine entscheidene Rolle bei der Formulierung der Bologna-Erklärung. Wer nur die Umsetzung der Bolognareform kritisiert und ihre Kernthesen bejaht, geht der Propaganda auf den Leim. So ist Imke Buß im Projekt «Promoting Bologna» des DAAD tätig und darf damit verbunden den Titel «Bologna-Expertin» tragen.

Die Kompetenzen sind als Problemlösungsfähigkeiten konstruiert. Doch das Leben besteht nicht aus einer Kette zu lösender Probleme, die sich scheinbar naturgegeben aneinanderreihen. Die Konstruktion von Problemstellungen und Anforderungssituationen ist in der Realität selbst nie unproblematisch. Eine genaue Reflektion eines Themas kann nicht an einem konkreten, abschließenden Ergebnis orientiert sein, sondern erfordert stetiges Hinterfragen und Zweifeln. Ein unkritisches Erfüllen von vorgegebenen Anforderungen vergisst, den vorgegebenen Rahmen und stillschweigende Prämissen zu sprengen und zu durchdenken: Wer profitiert davon, dass ich diese Aufgabe löse? Ist das Produkt, für das ich das Marketing betreiben soll, wirklich so wertvoll?

Zum anderen wird häufig bejubelt, dass die neue, ganzheitliche Sicht das gesamte Individuum (eben einschließlich seiner Motivationen usf.) berücksichtigt. Hierbei wird häufig verkannt, zu welchem Zweck das Bildungssystem umgeordnet wird. Es wird damit der Bildungsinstitution zugebilligt, Zugriff auf alle Lebensbereiche der Studierenden zu haben, um sie im Sinne gesellschaftlicher Partikularinteressen zu unterrichten und zu formen. Ein Beispiel hierfür ist die Wiedereinführung von längst überwunden geglaubten Verhaltensnoten in den Schulen, die konformes und angepasstes Verhalten belohnen und als abweichend stigmatisierte Einstellungen ausgrenzen.

Aufstieg durch Regression?

Intellektuelle Selbstbestimmtheit und Selbstbewusstsein des Wissenschaftlers sind nicht gewollt und werden verwehrt. Der Forscher soll nicht hinterfragen, zu welchen Zwecken er arbeitet und wem seine Erkenntnisse zugute kommen, sondern diese allenfalls als Wohl der Gesellschaft verherrlicht wahrnehmen. Statt dem wissenschaftlichen Interesse zu folgen, soll er unter fremden Zielen Probleme lösen und handhabbare, ökonomisch verwertbare Antworten produzieren.9

Außerdem soll mit dem Irrglauben der Messbarkeit von Bildung der Eindruck der Objektivität der erfolgenden schulischen Selektion gesichert werden. Das System leicht verständlicher und verbindlicher Standards, das den ‘outcome‘ von Bildungseinrichtungen quantifiziert und vergleicht, dient dazu, die Akzeptanz von vermeintlich sachorientierten Bewertungsmechanismen (bei der Vergabe von Zertifikaten, Benotung und dergleichen) zu erhöhen. Diese Akzeptanz ist bei der Konstitution und Einsetzung gesellschaftlicher Eliten von entscheidender Bedeutung: „Das Image der deutschen Wirtschaft hat sich in den letzten Jahren verbessert. Dazu gehört auch eine wesentlich stärkere Ausrichtung unseres Bildungssystems auf das Fordern, Erkennen und Fördern von Leistung. Wir brauchen Eliten, um den Anforderungen national und international gerecht werden zu können.“10

Beispielhaft für die Inanspruchnahme des Bildungsbegriffs für gesellschaftspolitische Machtinteressen ist die anlaufende Qualifizierungsinitiative von Bund und Ländern, die auf dem Bildungsgipfel 2008 als einziges Ergebnis beschlossen wurde und den Titel ‘Aufstieg durch Bildung‘ trägt. Nachdem es nicht mehr zu leugnen und mittlerweile empirisch nachgewiesen ist11, dass durch Studiengebühren und Bachelor die soziale Selektivität des Bildungssystems enorm zugenommen hat, wird offenbar versucht, einen Vertrauensverlust des Bildungssystem durch Bedienung der Aufstiegsinteressen der ärmeren Klassen auszugleichen. Bildung erfüllt hier den Zweck der Legitimation sozialer Unterschiede.

Basisgruppe Philosophie

http://basisgruppephilosophie.wordpress.com/


1) Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Qualitätsverbesserung von Lehre und Studium, 2008, Seite 18

2) Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur künftigen Rolle der Universitäten im Wissenschaftssystem, 2006, Seite 42

3) E. Klieme, Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen, in: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 6/2006

4) BMBF, Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, 2003, Seite 72

5) ERT, Education for Europeans Towards the Learning Society, 1994, Seite 7

6) ebd. Seite 17

7) BMBF, Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, 2003, Seite 9

8) ebd.

9) Im neuen Wissenschaftssystem bleibt ein Rest freier Forschung als sogenannte Grundlagenforschung erhalten, der notwendig ist, um nicht in völligen Stillstand zu verfallen. Dieses Restderivat wissenschaftlicher Freiheit ist jedoch als Hilfswissenschaft für die angewandte Forschung gebrandmarkt, die trotz fehlender unmittelbarer ökonomischer Nutzbarkeit als kleineres Übel betrieben werden muss und gleichzeitig als Feigenblatt dient.

10) aus dem Grußwort von Dr. Dieter Hundt (Arbeitgeberpräsident BDA/Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände) zur Fachtagung "Talente im Fokus" am 20. November 2008

11) vgl. die HIS-Studie zu den sozialen Auswirkungen von Studiengebühren (http://www.his.de/pdf/pub_fh/fh-200815.pdf), die 18te Sozialerhebung der Deutschen Studentenwerke oder den Studierendensurvey des BMBF

Erschienen am: 13.01.2009 zuletzt aktualisiert: 13.01.2009 18:22 AutorIn: Basisgruppe Philosophie