"Wissen" für emanzipatorische Bildungspolitik

Im Folgenden möchte ich für mehr Reflektion über die Arten, Formen und Systeme von Wissen in und für Konzepte emanzipatorischer Bildungspolitik argumentieren. Letztlich fordere ich dazu auf, nicht nur über alternatives Wissen für eine andere Welt nachzudenken, sondern andere ”Wissens” zu entwickeln, zu erproben und zu verbreiten und sich an den Konstruktionen von anderen Welten und den Kämpfen für sie zu beteiligen.

Ich argumentiere für diese Konstruktionen und Kämpfe basierend auf vier Schritten: (1) Zuerst führe ich in die Verwendung des Wissensbegriffs und den Plural von Wissen (knowledges) in diesem Text ein. Gleichzeitig problematisiere ich Rollen von Wissens in gesellschaftlichen Prozessen. (2) Die Problematisierung entwickle ich dann weiter im gesellschaftlichen Feld ”Wissenschaft”. Hier arbeite ich heraus, dass Wissen unser Handeln kanalisiert und informiert. (3) Um eine andere Welt zu entwickeln und zu erkämpfen, brauchen wir auch alternative Wissens. Nur mit ihnen können die Machtverhältnisse verändert werden. Dieser Text dient also der Entwicklung alternativer Konzepte von Wissen; mein Fokus ist Wandel durch autonome Wissens. (4) Darauf aufbauend diskutiere ich Implikationen solcher Wissenskonzepte für emanzipatorische Bildungspolitik.

Wissen für eine Gesellschaft

Jede unserer Handlungen wird durch unser Wissen informiert: Ich tippe auf einer seltsam konstruierten Oberfläche herum, wissend, dass dies zur Anzeige von Zeichen auf meinem Bildschirm führt, die ich im Anschluss speichern, wieder abrufen und mit Dir teilen kann. Dieses Wissen ist notwendig, um mich an dieser Form von Kommunikation zu beteiligen. Gleichzeitig ist die Umsetzung meines Tippwissens (bzw. führt zum) Ausdruck meiner wissenden Beteiligung an politischen Prozessen.

Das Schreiben ist aber auch Form eines Glaubens: Ich bin davon überzeugt, dass diese Form der Kommunikation der Überzeugung von Dir dient und potentiell zur Änderung Deiner Handlungen führt. Damit ist mein Tipp- und Schreibwissen auch Teil eines Glaubenssystems. In anderen Glaubenssystemen werden zum Teil andere Wissens über Schreiben und Tippen verwendet: Das Verfassen von elektronischen Texten ist Ausdruck einer Digitalisierung unseres Lebens und damit auch seiner Kontrolle. Um letzteres zu vermeiden, soll aus der begrenzenden Form dieses elektronischen Schreibens ausgebrochen werden. Andere Formen des Schreibens sind möglich; Bilder, Musik und andere Kommunikation erlauben es ebenfalls, Inhalte zu teilen und darüber hinaus andere Inhalte zu generieren. Es gibt nicht nur ein Wissen zum Schreiben, sondern mehrere: vielfältige Wissens existieren [1].

In anderen Kulturen (in/an/zu anderen Zeiten, Orten, Disziplinen, Gruppen und Kollektiven) funktionieren andere Wissenssysteme – sie erlauben andere Realitäten: Watson-Verran und Turnball diskutieren wie die Inkas, Indianer in Nordamerika, Navigatoren im Pazifik und die Europäer der Gotik sich mittels ihres jeweils funktionierenden Wissens in der Welt orientierten [2]. Diese Wissens waren eingebettet in stabile sozio-ökologische Zusammenhänge. Daher: Es gibt nicht nur ein System von Wissen, sondern unterschiedliche Gesellschaftssysteme bringen eine Vielfalt von Wissenssystemen mit sich.

Wissenschaft

Wissenschaftliches Wissen ist von großer Macht in unserer Gesellschaft. Typischerweise wird es als ”ein Wissen” (akkumulativer Wissensbegriff) gesehen. Die herrschende soziale und politische Konstruktion in unserer Gesellschaft ist: Wer wissenschaftliches Wissen hat und produziert, hat viel Macht. Diese Macht liegt allerdings nicht im Wissen, sondern in der Gesellschaft, die Trägern bestimmter Wissens bestimmte und bestimmende Macht verleiht. Wenn wir uns anschauen, welche Träger tatsächlich Macht haben, ist festzustellen, dass nicht jedes wissenschaftliche Wissen zu Macht führt: In den Wirtschaftswissenschaften haben Anhänger verschiedener Wissens unterschiedlich viel Macht. Marxisten haben weniger Macht als Neoliberalisten. In der BRD dominiert in den Politikwissenschaften ein Wissen, in welchem es kein Platz für Wissen über Anarchismus als Demokratieform gibt [3].

Neben traditionellen, praktischen, religiösen und anderen Wissens sind wissenschaftliche Wissens Teil von Machtverhältnissen. Letztere werden in Wissens widergespiegelt. Obwohl es letztlich eine soziale Konstruktion ist, dass Elektronen in Leitern fliessen, hat dieses Wissen auch einen materiellen Bezug: Wissens müssen nicht nur in der materiellen-sozialen Welt funktionabel sein, sondern sie sind auch immer bestimmten Interessen dienlich. Wissenschaft ist nicht neutral, sondern nimmt bestimmende Standpunkte ein. Finanzierung von Wissenschaft versucht sicherzustellen, dass die produzierten Wissens zu den Interessen der finanzierenden Institutionen passen. Was gute wissenschaftliche Praxis ist, ist ein politischer Konsens (bzw. Dissens) und nicht objektiv gegeben [4]. Disziplinen sind darauf angewiesen, jene zu disziplinieren, die sich nicht in die herrschenden Institutionen einpassen. Akkreditierung von Studiengängen ist hier nur ein jüngstes Beispiel. Die Pflege von Wissens in den herrschenden Institutionen dient der Kanalisierung von Handlungen in der Gesellschaft. Damit sind wissenschaftliche Wissens oft Herrschaftswissens. Hegemonie [5] wird dabei nicht nur von ”oben” durchgesetzt, sondern funktioniert auch durch die überall in der Gesellschaft verteilte Internalisierung von Wissen und Umsetzung der beherrschenden Wissens [6]. In Anlehnung an Feenberg ist herauszustellen, dass Wissen jedoch nicht determiniert, sondern uns informiert [7]: Dissens ist möglich [8].

”Social Change!”

Das Problem vorneweg: alternative Wissens führen nicht automatisch zu fundamentalen Wandel in der Gesellschaft. Es ist wiederholt deutlich gemacht worden, dass alternative Wissens in herrschende Wissenssysteme eingepasst werden können [9, 10]: Open-Access steht dem Kapitalismus nicht per se entgegen; Wissens von politischen AktivistInnen und Nichtregierungsorganisationen sind nicht autmatisch subversiv.

Allerdings eröffnen alternative Wissens Wege zu weniger herrschaftsförmigen Gesellschaftsformen: Das kapitalistische Wahrheitsregime kann durch alternative und autonome Wissens und Wissenssysteme unterminiert, ersetzt und bekämpft werden [11]. Hierzu sind z.B. Wissens über Ressourcen (materielle und theoretische) für den Aufbau von alternativen Gesellschaftspraxen ausserhalb kapitalistischer, sexistischer, rassistischer und naturzerstörender Logiken hilfreich. Um solche Alternativen zu leben, sind Wissens notwendig, die die Funktionabilität und Stabilität der jeweiligen Alternative gewährleisten. Wichtig hierbei ist, Wissens zu genieren, die strukturell nicht (bzw. möglichst schlecht) in herrschende Systemlogiken eingepasst werden können. Um fundamentalen Wandel der Gesellschaft zu erreichen, brauchen wir Wissens, die das herrschende System nicht stabilisieren.

Ziel ist der Aufbau von Alternativen: Für diese gibt es jedoch keinen Masterplan, denn sie müssen an die jeweiligen sozio-ökologischen Kontexte angepasst werden [12]. Es geht nicht darum, ein hierarchisches System duch ein anderes zu ersetzen, sondern antihierarchische Wissens für antihierarchische Gemeinschaften zu entwickeln. Dazu müssen wir mit vielfältigen Experimenten an vielen Orten rechnen. Um Raum für diese Vielfalt zu schaffen sind vielfältige Kämpfe absehbar. Für letztere brauchen wir nicht nur antihierarchische Wissens, sondern auch Wissens gegen die herrschende Hegemonie.

Anforderungen an emanzipatorische Bildungspolitik

Ziel emanzipatorischer Bildungspolitik soll es sein, Menschen zu helfen, eine andere Welt, ihre Welt, aufzubauen und sich dazu ihrer sozio-ökologischen Kontexte bewusst zu werden. Bildung muss auch helfen, emanzipatorisch zu kämpfen und Verantwortung für sich selbst und in der Gesellschaft/Gemeinschaft zu übernehmen.

Das impliziert, Wissens nicht so gesellschaftlich diskriminiert zu produzieren. Zum Beispiel muss Bildung ermöglichen, Theoriebildung nicht nur an Hochschulen zu begünstigen, sondern Theoriebildung für alle gesellschaftlichen Gruppen zu erlauben.

Bildung soll Subjekten helfen, sich mit Wissens kritisch auseinanderzusetzen und dezentral alternative Lebenspraxen zu erproben und zu entwickeln sowie selbstkritisch zu reflektieren. Kritik soll also auch nach Innen gerichtet werden anstatt nur herrschende Systeme infrage zu stellen. All dies zeigt, dass es nicht ausreicht, Bildungssysteme institutionell zu demokratisieren. Darüber hinaus müssen auch die Inhalte und Produktionsprozesse sowie die fundamentalen Wissenssysteme antihierarchisch sein und werden. Es scheint, nur damit können letztlich emanzipatorische Wissens und Technologien für alle gepflegt und entwickelt werden.

Dieser Text zeigt auf: Wissens für Konzepte antihierarchischer Bildung können nur antihierarchisch produziert werden. Wir müssen uns dazu also in antihierarchische Räume begeben. Um diese Räume in unseren herrschaftsförmigen Gesellschaften zu halten, brauchen wir – analog zu Ana Ester Ceceñas Unterscheidung von Anti- und Gegenmacht – möglicherweise auch Gegenwissen (Mittel). Gegenwissen geht konfrontierend gegen die Herrschaftsförmigkeit vor. Das Ziel sind aber antihierarchische Wissens. In vielen Gesellschaften wird mit selbstbestimmter Bildung experimentiert; alternative Wissens und Praktiken werden in alternativen Bildungsräumen erzeugt (siehe unter Links: Projekte für Autonome Wissens).

Eine weitergehende Perspektive auf Räume für eine andere Welt ist die, dass wenn in diesen Räumen tatsächlich alternativ gelebt wird und durch die Entwicklung von anderer gesellschaftlicher Praxis auch bald anders gewusst wird. Damit entsteht letztlich eine Welt, die mit der herrschenden Welt materiell und wissend verbunden ist, jedoch gleichzeitig auch Unabhängigkeiten entstehen. Müssen wir den Begriff von ”Parallelgesellschaften” überdenken? Es scheint doch gerade unser Ziel zu sein, eine Parallelgesellschaft aufzubauen und die Subjekte der beherrschten und herrschenden Welt davon zu überzeugen, dass Sie sich bewusst von der alten Welt verabschieden und mit uns eine andere Welt aufbauen.

Da Menschen natürlich immer vielfältig sind, auch im Hinblick auf Arten, Formen, Inhalte von Wissen, geht es nicht darum, zu fordern, dass in der angestrebten Gesellschaft alle Subjekte gleiche Wissens hätten und deswegen dieselbe Gestaltungsmöglichkeiten hätten. Stattdessen entwickelt sich die These, dass wir für eine bunte Welt auch bunte Wissens brauchen und die Antihierarchie darin besteht, Wissensunterschiede nicht zu zementieren, sondern für gesellschaftliche Prozesse vielfältige Wissens zulässt und sogar begünstigt. Wissen ist Macht und Antimacht heißt nicht Nichtwissen, sondern allen Subjekten zu ermöglichen, mit ihren Wissens die Welt mitzugestalten. Nicht ein Wissenssystem soll zur objektiven Macht führen, sondern Wissens und Macht soll gleichmäßig verteilt werden und sich entwickeln. Damit wird es auch ständig anderes Neues geben! Der neoliberale eindimensionale Fortschritt wird durch buntes Fortschreiten ersetzt.

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[1] D. Haraway. Situated Knowledges: the Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. online abgerufen, web.archive.org/web/20060424042555/http://www.hsph.harvard.edu/rt21/concepts/HARAWAY.html, 2006, Dez. 14, 1999.

[2] H. Watson-Verran und D. Turnball. Kapitel 6: Science and Other Indigenous Knowledge Systems, 115–139. In: S. Jasanoff et al. Handbook of Science and Technology Studies. Sage Publications in Cooperation with the Society for Social Studies of Science, Thousand Oaks, London, New Delhi, 1995.

[3] R. Burnicki. Anarchismus und Konsens. Gegen Repräsentation und Mehrheitsprinzip: Strukturen einer nichthierarchischen Demokratie. Verlag Edition AV, Frankfurt am Main, 2. Auflage, 2003.

[4] S. Shackley und B. Wynne. Mutual construction. global climate change: the mutual construction of an emergent science-policy domain. Science and Public Policy, 22(4):218–230, Aug. 1995.

[5] A. Gramsci. An Antonio Gramsci Reader. Lawrence and Wishart, London, 1988.

[6] G. Burchell, C. Gordon, und P. Miller, editors. The Foucault Effect: Studies in governmentality: with two lectures by and an interview with Michel Foucault. The University of Chicago Press, Chicago, 1991.

[7] A. Feenberg und A. Hannay, editors. Technology and the Politics of Knowledge. The Indiana Series in the Philosophy of Technology. Indiana University Press, Bloomington and Indianapolis, 1995.

[8] H. Garfinkel. Studies in Ethnomethodology. Blackwell, Malden, 1967.

[9] S. Epstein. Impure Science. AIDS, Activism and the Politics of Knowledge. Medicine and Society. University of California Press, Berkely, Los Angeles, 1996.

[10] M. Schiltz, G. Verschraegen, und S. Magnolo. Open access to knowledge in world society? Soziale Systeme, 11(2):346–369, 2005.

[11] Bureau d’études. autonomous knowledge and power in a society without affects. online retrieved, http://utangente.free.fr/anewpages/holmes.html, 2006, Dec. 01, 2002.

[12] U. Brand und J. Hirsch. Kapitel Suchprozesse emanzipativer Politik, 119–132. In: U. Brand. Gegen-Hegemonie. Perspektiven globalisierungskritischer Strategien. VSA, Hamburg, 2005.

Dieser Text basiert auf einem Papier für den AK ”Emanzipatorische Bildungspolitik im Postfordimus” des BdWi. Bei Interesse bitte mailen an: email-address

Ingmar Lippert war mehrere Jahre im fzs Ausschuss Studienreform aktiv. Zurzeit beteiligt er sich am AK ”Emanzipatorische Bildungspolitik im Postfordimus” des Bund der demokratischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (www.bdwi.de). Darüber hinaus ist trägt er die Autonome Universität Lancaster (www.knowledgelab.org.uk/wiki/aul) mit. Daneben ist er ser beeinflusst vom Center for Science Studies und dem Center for the Study of Environmental Change der Universität Lancaster.

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Erschienen am: 30.11.-1 zuletzt aktualisiert: 12.10.2009 14:09