Aufruf: Kommt zum sozial-revolutionären Block auf der Bildungsstreikdemo!

Aufruf zum sozial-revolutionären Block auf der Bildungsstreikdemo am 17. Juni 2009 in Göttingen

Treffpunkt: 10:30h Campus (Uni Göttingen)

Zum sozial-revolutionären Block ruft ein Bündnis linksradikaler Gruppen auf. Im folgenden dokumentieren wir unseren Aufruf, der eine Ergänzung zum Bündnisaufruf darstellt.

What‘s up?

Im Rahmen des bundesweiten Bildungsstreiks findet am Mittwoch, den 17. Juni, eine Bündnisdemonstration, bestehend aus Schüler_innen- und Studierendengruppen, Gewerkschaften und Jugendverbänden statt, um gegen die Kürzungen und Verschlechterungen im Bildungssystem zu protestieren. Wir rufen zu einem eigenen Block auf, da wir zwar mit vielen gemeinsam gegen die Bildungsmisere und gegen die Bezahlung der Krise durch uns protestieren wollen, im Gegensatz zu anderen aber jede Flickschusterei, d.h. Rettungspakete am Kapitalismus, ablehnen.

Bildungskrise

Das Bildungssystem befindet sich in einer tiefen Krise. An entscheidenden Stellen im Bildungssektor wird und wurde gekürzt. Er wird umgekrempelt, um auf die aktuellen Arbeitsmarkt- und Krisenverhältnisse zu reagieren und ihn entsprechend anzupassen. Das Turbo-Abi, das die gleichen Lehr- und Lerninhalte wie das 13-jährige Abitur in lediglich 12 Schuljahren abhandeln soll, die Einführung von Bachelor-/Masterstudiengängen und die Kürzungen an den KiTas, sind entscheidende Sparprogramme des Staates, der versucht mit Müh und Not kapitalistische Verwertungslogik aufrecht zu erhalten. Das führt, wie im Fall des dreigliedrigen Schulsystems und der Einführung von Studiengebühren zu einer immer stärkeren sozialen Segmentierung. Die Kürzungen von Sozialleistungen stehen in einem direkten Zusammenhang mit den Ausgaben, die Banken und Firmen vor ihrer Pleite retten sollen. Insofern wirkt sich die Krise unmittelbar auf Schulen, Hochschulen und Ausbildungsplätze – sprich auf die Reproduktion und Veredelung der Arbeitskraft – aus.

Die Krise

Die aktuell in Erscheinung tretende Wirtschaftskrise ist die schwerste Krise seit dem Crash der Weltwirtschaft in den 1930er Jahren. Damals war der Finanzkrach von 1929 erst das Vorbeben der großen Krise mit ihren Millionen von Arbeitslosen, massenhafter Verelendung und dem „Konjunkturprogramm“ Aufrüstung und Krieg. In Deutschland verband der Nazismus einen durch die Krise beförderten, sich selbst als “antikapitalistisch” begreifenden und in der Bevölkerung weit verbreiteten Antisemitismus mit den Interessen des Kapitals und führte zu Shoah und Vernichtungskrieg.

Weder für die damalige noch für die aktuelle Krise sind aber “gierige Finanzmanager und Spekulanten” verantwortlich. Auch nicht die Arbeiter*innen in den USA, die ihre Häuser mit Krediten kaufen mussten, die sie nicht zurückzahlen konnten. Es ist die Marktwirtschaft selbst (egal ob “frei” oder “sozial”), das kapitalistische Wirtschaftssystem, das dafür sorgt, dass das Kapital durch die Produktion von Waren, also durch die Ausbeutung der Arbeitskraft, keinen „ausreichenden“ Profit mehr erzielt und deshalb z.B. in spekulative „Finanzprodukte“ investieren musste. Hinzu kommt, dass der Kapitalismus immer wieder zu einer Überproduktion an Kapital tendiert, das sich nicht mehr profitabel investieren lässt.

Ob sich dieser auf Kosten der Ausgebeuteten dieses Planeten „gesundgeschrumpft“ und „modernisiert“ oder ob endlich eine Bewegung entsteht, die Schluss mit dem längst überfälligen System macht, kann niemand sagen. Viele Menschen fangen aber gerade an, die Dinge klarer zu sehen und verstehen, dass freie wie soziale „Marktwirtschaft“ – also Kapitalismus im Normalbetrieb – auch jenseits ihrer Krisen genug gesellschaftliches Elend rund um den Globus hervorbringen: stumpfsinnige Lohnarbeit, Umverteilung von Macht und Vermögen zugunsten Weniger, Erwerbslosigkeit, psychische Erkrankungen, Krieg, Umweltzerstörung, Hunger, Durst und Tod.

Der Kapitalismus bringt seine Krisen selbst hervor. Sie treten mehr oder weniger regelmäßig auf, wenn auch nicht weltweit überall gleichzeitig. Kapitalvernichtung an der einen Stelle eröffnet neue Möglichkeiten zur Kapitalverwertung an einer anderen Stelle. Das mit diesen Prozessen verbundene massenhafte menschliche Leid spielt für den Kapitalismus keine Rolle, solange es nicht in Aufstand, Revolte oder Revolution übergeht. Das Kapital spricht von Krise, sobald seine Profite zurückgehen.

Die Gegenüberstellung eines »bösen« neoliberalen Kapitalismus, auch als „Casino“-, „Turbo“-, oder “Finanzkapitalismus” bezeichnet, und eines “guten”, “produktiven”, “schaffenden”, gar “sozialmarktwirtschaftlichen” Kapitalismus, täuscht und lenkt davon ab, dass es nur einen Kapitalismus gibt.

Konjunkturprogramme sind Krisenverschiebungsprogramme in jeder Hinsicht. Sie versuchen die Verlaufskurven der Krise in den kapitalistischen Zentren abzuflachen und die Revolten und Klassenkämpfe, jedenfalls die von unten, in Grenzen zu halten, damit Kapital und Staat an der Macht bleiben. Wir sollen die milliarden- bis billionenschwere Rettung von Banken und Konzernen durch Lohnkürzungen, verschärften Leistungsdruck, Arbeitszeitverlängerungen, Verschuldung, neue Abgaben, Preissteigerungen, höhere Steuern, Einsparungen und Kürzungen von Sozialleistungen bezahlen.

Für Frauen bedeutet die obengenannte Krise neben den ohnehin alltäglich stattfindenden Sexismen, dass eine ungleiche Doppelbelastung auf sie abgewälzt wird. Einerseits sind sie ebenso Lohnarbeitende, Studierende, Auszubildende oder Arbeitslose wie Männer auch. Andererseits wird aber erwartet, dass Frauen gleichzeitig Haushalt und Reproduktion der Ware Arbeitskraft bewältigen. Wie gesagt: nicht nur der Ort der Herstellung von Waren und Dienstleistungen (Produktionsbereich), befindet sich in einer Krise. Ebenso spitzt sich der Widerspruch zwischen Produktion und Reproduktion stetig zu. Bildungseinrichtungen, Kindergeld und die Rentenversorgung werden unnachgiebig weggekürzt. Es wird von Frauen erwartet, dass sie diese Auswüchse der Krise im Reproduktionssektor übernehmen. Im nationalökonomischen Weltbild äußert sich dies in dem Schrei nach der Frau, die sich wieder vermehrt um Kinder und Familie kümmern soll.

Dies bedeutet einerseits eine erneute Verfestigung der traditionellen Geschlechterrollen und andererseits eben eine massive Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen weltweit. Ein Rückschritt im Bezug auf Geschlechterbilder und -rollen hat ebenso eine Verschärfung homo- und transphober Übergriffe und deren Rechtfertigungsstrategien in der Öffentlichkeit zur Folge. Denn in einer Gesellschaftsordnung, in der die Familie zentraler Bezugspunkt ist, haben andere Sexualitäten und Identitäten als die heterosexuelle Mann/Frau-Dichotomie keine Daseinsberechtigung.

Staat und Nation: Teil des Problems

Gegen die wiederkehrende Bedrohung durch die kapitalistischen Krisen entwickelt sich die Ideologie nationaler Schicksalsgemeinschaft klassen- und widerspruchsübergreifend als angeblich natürlicher Anspruch auf staatliche Fürsorge in der Not. Das ist aber paradox, weil der Staat selbst die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Konkurrenz sichert (z.B. durch den Schutz des Privateigentums an Produktionsmitteln) und nun zugleich das Gegengift zum Konkurrenz- und Profitmaximierungszwang liefern soll. In den nationalen Appellen von Politik und DGB-Gewerkschaften ans „gemeinsame Schicksal“ soll der Staat also genau das gute Leben gewährleisten, das seine Gesellschaftsordnung ständig verhindert. Da jeder Staat in seiner Existenz auf die Funktion eben dieser kapitalistischen Ordnung angewiesen ist – Stichwort Steuern – dürfen alle noch so gut gemeinten Reformvorschläge den eigenen Standort und seine Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt schließlich nicht schädigen. Staatliche Politik meint daher wesentlich die Anpassung an die Sachzwänge des Kapitals.

Das verweist auf das grundsätzliche Dilemma jener Linken, die den Kapitalismus mit Hilfe des Staates reformieren wollen. Da jede begrenzte Verbesserung im „eigenen“ Standort letztlich finanziert werden muss, reproduzieren sie notwendigerweise das Problem, das sie doch beheben wollen. Auf den Nationalstaat beschränkte Verbesserungen, wie etwa ein Existenzgeld, bergen dazu die Gefahr, dass sie notwendigerweise auf Kosten von Migrant*innen reaktionär und autoritär organisiert werden. Lafontaine zum Beispiel spricht folglich nur die dunkle Seite des Reformismus von Attac und Linkspartei aus, wenn er gegen „Fremdarbeiter“ hetzt und Abschiebelager in Nordafrika fordert: Es droht jederzeit das Urteil der Untauglichkeit fürs nationale Projekt. Und je brüchiger der tatsächliche Zusammenhalt, desto dringlicher wird die Rückversicherung auf die nationale Identität und desto gnadenloser der Hass auf die, die dem nationalen Fortkommen (tatsächlich oder angeblich) im Wege stehen. Dagegen setzen wir einen Kampf, der sich nicht den Kopf des Staates zerbricht, sondern auf ein gutes Leben für alle Menschen weltweit zielt. Etwas besseres als die Nation finden wir allemal.

Wir können auch anders!

Was auch immer jetzt passieren wird, die Dinge hängen ganz wesentlich von uns ab! Wir können weitermachen wie bisher und weiter als Teil einer Maschine funktionieren, die den Planeten zerstört und massenhaftes Elend hervorbringt. Wir können aber auch anders. Wir sind es, die die gesellschaftlichen Verhältnisse hervorbringen und durch diese Kraft können wir auch dafür sorgen, dass es statt ewiger Krisen ein gutes Leben für alle auf dem Planeten gibt. Eine Gesellschaft ohne Knechte und deshalb auch ohne Herren, eine Welt ohne geist- und gesundheitstötende Lohnsklaverei, eine Welt ohne geschlechtliche Normierung und Sexismus. Für eine Welt, in der die Produktionsmittel, die noch benötigt werden, allen gehören. Eine Welt ohne Lohnarbeit, Patriarchat, Kapital und Grenzen.

Eine solche, von den Zwängen von Kapital und Herrschaft befreite Gesellschaft, in der es Wohlstand für alle gibt – nennen wir sie einmal antiautoritärer oder libertärer Kommunismus – werden wir aber nicht geschenkt bekommen. Wir werden sie uns Stück für Stück von denen erobern müssen, die ein Interesse daran haben, dass die gegenwärtige Gesellschaft auf Basis von Profit, Konkurrenz, Ausbeutung und Unterdrückung weiter besteht und verwaltet wird. Wenn wir nicht einfach nur weiter Opfer der kapitalistischen Versuche, die Krise irgendwie abzumildern sein wollen, müssen wir damit beginnen, uns selbst zu organisieren. Sonst dulden wir, dass wir lediglich Zuschauer*innen in einem Spektakel bleiben und es gegen uns organisiert wird.

Wir brauchen Basisgewerkschaften der Lohnabhängigen – in Opposition zu den DGB- Gewerkschaften – in den Betrieben, um uns vor den Zumutungen der täglichen Ausbeutung zu schützen und als Schule für die Selbstverwaltung und Hebel, um die Maschine anzuhalten. Wir brauchen Komitees und Versammlungen in den Stadtteilen und Jugendzentren, um uns besser vor den zu erwartenden Entmietungen, Strom- und Gasabschaltungen schützen zu können. Wir brauchen Konzepte kollektiver und selbstbestimmter Kinderbetreuung, um der Doppelbelastung durch Normierung zu entgehen. Wir brauchen selbstverwaltete Strukturen in der Ausbildung, an den Schulen und Hochschulen um Selbstbestimmung und kritisches Denken zu erlernen und einzuüben. Wir brauchen selbstverwaltete Räte in allen Bereichen der Gesellschaft, um den Einfluss von Politik und Bürokratie Stück für Stück zurück zu drängen und der Krisenbewältigung auf unserem Rücken einen Strich durch die Rechnung zu machen. Wir brauchen eine soziale Revolution weltweit.

Basisgruppe Geschichte im Juni 2009

Erschienen am: 18.06.2009 AutorIn: email-address