Ausnahmezustand in Hamburg - Chronik eines Skandals

oder: die brutale Realität der »Reformen«

„Hier herrscht Ausnahmezustand: Es gibt faktisch ein allgemeines Demonstrationsverbot und man wird ohne weiteren Anlass auf der Straße verhaftet, nur weil man Studierender ist...”

...so fasst der Studierende F. aus Hamburg, mit dem wir gesprochen haben, die dortige Situation zusammen. Hamburg strebt an die Studiengebühren noch vor allen anderen Ländern bereits im Jahr 2006 einzuführen. Dementsprechend scheinen sich Staat und Politik auf eine harte Gangart gegen jeglichen studentischen Protest in Hamburg eingestellt zu haben. Ein erfolgreicher „Präzedenzfall”, der eine Welle von entschlossenen Protesten in anderen Bundesländern nach sich ziehen könnte, soll verhindert werden. Dabei schrecken sie nicht davor zurück, elementare Grundrechte wie Demonstrations- und Bewegungsfreiheit den Studierenden vorzuenthalten. Auch Verletzte werden in Kauf genommen. Dieser Artikel soll einen Überblick über die Geschehnisse geben, die auch für uns ein deutliches Zeichen setzen:

Semesterbeginn

Der Protest begann bereits am ersten Tag des Semesters, als Studierende das Audimax blockierten, um die ErstsemesterInnen auf den Ernst der Lage aufmerksam zu machen.

13. April: Vollversammlung beschließt Warnstreik

Auf einer Vollversammlung beschlossen ca. 2.500 Studierende, mit einem Warnstreiktag ein Zeichen für ihre Entschlossenheit zu setzen. Es gründeten sich AGs, die Flash Mobs, eine Jubeldemo und viele bunte Aktionen organi-sierten. Wie wir bereits berichteten (Protestinfo #1), kam es zu einer Blockade des Hauptgebäudes: Das harte Vorgehen der Polizei gegen die ca. 50 BlockiererInnen veranlasste etwa 1.000 weitere Studierende sich spontan zu solidarisieren.

Während die friedlichen BlockiererInnen von der Polizei ohne Aufforderung die Blockade aufzulösen eingekesselt wurden und nach und nach einzelnd herausgegriffen wurden, beschlossen einige Studierende den Abtransport zu behindern und den Kessel der Polizei zu durchbrechen – die Gefangenen wurden aus dem Kessel befreit. Während sie bereits bei den Festnahmen zuvor mehrere Arme umdrehten und einigen gezielt ins Gesicht schlugen, stellten die PolizistInnen nun für alle sichtbar ihre Überlegenheit zur schau:

„Eine Kommilitonin wurde an Armen und Beinen gefesselt. Sie haben sich zu zehnt auf sie geworfen, während ihre Kollegen sie abschirmten. Dann haben sie eine Schneise durch die Studierenden geschlagen, und sie gefesselt mit mehreren vor unseren Augen weggetragen. Wir sollten alle sehen, was sie mit uns machen können.”, so die Einschätzung von F.

28. April: Zweite VV verurteilt Polizeieinsatz

Während die Proteste unter massiver Polizeipräsenz weiterliefen verurteilte die zweite VV die Anzeigen des Präsidiums, sowie den Polizeieinsatz und beschließt den Protest entschlossen weiter zu führen.

1. Mai: Gemeinsame Demo

Ca. 500 Studierende brachten sich in die Mai-Proteste ein. Sie betonten damit den Zusammenhang zwischen »Sozial-« und »Bildungsreformen« und stellten klar, dass hier gegen die gleiche Logik protestiert wird.

2.-4. Mai: Urabstimmung

94% der wählenden Studierenden stimmten in einer Urabstimmung gegen die Einführung von Studiengebühren. Ca. 33% der Studierenden beteiligten sich an der Wahl. Sollte ihre Entscheidung übergangen werden, so der AStA-Referent Florian Kasiske, werden sie ihren Uni-Präsidenten erneut aussperren.

10. Mai: Zweite Blockade

Um 6 Uhr morgens sollte die zweite Blockade des Uni-Hauptgebäudes beginnen. Die Uni war darauf vorbereitet und sperrte das Gebäude eigenständig hab. Außerdem hatte sie ihre Arbeitsstätte größtenteils verlegt. Um effektiv die Verwaltung zu blockieren entschieden sich die Studierenden spontan ein anderes Verwaltungsgebäude zu blockieren. Die Verwaltung rief sofort die Polizei. Ohne jede weitere Aufforderung gingen die drei erschienenen Hundertschaften der Polizei mit körperlicher Gewalt gegen die Studierenden vor. 31 von ihnen wurden in Gewahrsam genommen.

800 PolizistInnen für 100 DemonstrantInnen

Im Anschluss bildete sich eine spontane Blockade einer Kreuzung. Die Polizei präsentierte vier Wasserwerfer. Hamburgs berüchtigte Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE, schwarze Uniformen) erschien und postierte sich 30 Sekunden hinter der Polizeikette. Plötzlich stürmte die Einheit in die Studierenden, ergriff eine Person, zerrte sie in einen Wagen, drückte sie dort zu Boden und fuhr schnell wieder weg.

„Da wird man einfach festgenommen, weil man ganz legal eine Demonstration angemeldet hat!”, klärt F. uns über das „Vergehen” des Festgenommenen auf.

Keine Grundrechte für Studis

"Wer die Rechte anderer verletzt, kann sich nicht auf den Schutz von Grundrechten berufen" – so die Meinung des Uni-Präsidenten Lüthje in einer Pressemitteilung vom 10. Mai.

Ob die juristische Fakultät in Hamburg bereits so weit heruntergekommen ist oder ob Lütje diese einfach noch nie besucht hat, dass er zu so einer Rechtsauffassung gelangt? Der Hamburger AStA hat indes seine Rechtsanwälte eingeschaltet.

11. Mai: Ein Campus voller Polizei

Inzwischen greift die Polizei massiv in die persönlichen Rechte der Studierenden ein: Seminare werden von Zivilpolizisten besucht, um „Störer” herauszugreifen. TrägerInnen der gelben „Summer of Resistance”-T-Shirts werden daran gehindert, die Uni zu betreten. Auch für schwarz Gekleidete oder sonstwie „falsch Aussehende” ist am Eingang Schluss mit Studium.

„Wie würde das wohl ankommen, wenn Gewerkschafter so überwacht werden? Wenn streikende Arbeiter zusammengeprügelt und Gewerkschafter bei einem Warnstreik festgenommen würden?”, fragt sich F.

Ein Besitzer eines Copy-Shops auf dem Campus der, der sich weigerte die Polizei in seinen Laden zu lassen, bekam eine Anzeige weil er angeblich einen Polizisten geschubst haben soll. "Wir sehen uns später!" drohte der Polizist, bevor sie abrückten.

11. Mai: Demonstrationsverbot

Innenbehörde und Polizei ließen verlauten, jede Demonstration ohne Begründung im Einzelnen zu untersagen.

„Da gab es einfach kein Demonstrations-Recht mehr. Wer trotzdem demonstriert wird verhaftet.” So F. Und das blieb nicht nur eine Drohung: „Wir gingen geschlossen auf dem Bürgersteig Richtung Campus – die Straße war ja auch komplett grün. Die legten uns das als verbotene Versammlung aus, da hatten sie wieder einen Grund zuzugreifen und welche festzunehmen. Man muss sich das mal vorstellen: Da jagen Polizisten mit Knüppeln bewaffnet Leute über den Campus und durch die Stadt. Studierende werden festgenommen, weil sie angeblich irgendwie verdächtig aussehen. Die brauchen nichtmal auf einer Demo gewesen zu sein. Der totale Ausnahmezustand!”

12. Mai: Rudert Uni-Präsi Luthje zurück?

Bei einer Sitzung des „Akademischen Senats” bemerkte Lüthje als Antwort auf empörte Studierende, dass er nicht an Studiengebühren in den nächsten 2 Jahren glaube. Ein Versuch es herunterzuspielen?

Offiziell jedenfalls möchte keiner mehr so richtig verantwortlich sein. Lüthje will die Gebühren von einer „bundesweiten Entscheidung” abhängig machen, während Wissenschaftssenator Dräger auf Entscheidungen auf der Uni-Ebene setzt.

Damit ist noch nichts verhindert, allerdings scheint der Druck bei den Verantwortlichen angekommen zu sein.

13. Mai: Selbst Polizei kritisiert massive Präsenz

Laut Hamburger Abendblatt kritisieren nun auch die Hamburger PolizistInnen und deren Gewerkschaft die extrem überzogene Einsatzstärke. Dabei ist ihre Kritik wohl eher auf die daraus resultieriende hohe Überstundenzahl zurückzuführen, welche bereist über 800.000 Stunden beträgt.

Die Anzahl der PolizistInnen auf Hamburger Demos ist fast nie unter 1000. Bei einer der Demos mit ca. 300 friedlichen Teilnehmern, wurden insgesamt 1300 Bullen eingesätzt, 4 Wasserwerfer, sowie 2 Panzer, die den Demozug ständig begleiten und an jeder Kreuzung in Kampfbereitschaft auf die Teilnehmer warteten. Seit Jahren gab es keine Demo ohne Spalier – Nicht einmal Seitentransparente werden genehmigt.

19. Mai: Warnstreik von ver.di

Auch die Beschäftigten der Hamburger Hochschulen beginnen sich zu solidarisieren. Von 8 nis 12 Uhr traten die sie in den Warnstreik.

24. Mai: Präsidium besetzt

Sie lassen nicht locker: Seit 7 Uhr ist das Präsidium von rund 100 Studierenden besetzt. Trotz der massiven Repression halten die Studierenden an ihrem Protest fest: Lüthje soll den Willen der großen Mehrheit der Studierenden und des Akademischen Senats akzeptieren und keine Studiengebühren einführen, sowie die Anzeigen gegen die BlockierInnen wegen Nötigung fallen lassen.

Auch in den nächsten Tagen soll der Protest weiter gehen. Am kommenden Donnerstag (26. Mai) berät eine weitere uniweite VV über das weitere Vorgehen.

Erschienen am: 25.05.2005 zuletzt aktualisiert: 29.07.2007 19:34 AutorIn: email-address