Tödliche Schüsse und das Monopol der Gewalt

Am 6. Dezember wurde in Athen der 15-jährige Alexandros Grigoropoulos von einem Polizisten im Dienst erschossen. Umittelbar danach brachen in ganz Griechenland teilweise aufstandsähnliche Krawalle aus, die auch im Ausland vielfach auf Solidaritätsbekundungen stießen. Anders als von bürgerlichen Medien oft dargestellt, handelt es sich bei den Aktionen in Griechenland nicht um trauernde Schüler_innen und Student_innen einerseits und riotbegeisterte Chaot_innen auf der anderen Seite. Stattdessen werden die Konfrontationen von einer breiten Basis getragen, aufbauend auf einer bereits vorher entstandenen, starken linken Bewegung. Alexandros Ermordung wird nicht einfach als Einzeltat eines durchgeknallten Bullen begriffen, sondern als Konsequenz und Gipfel der alltäglichen staatlichen Gewalt. Die in Griechenland Revoltierenden zerlegen Polizeireviere, Banken, Geschäfte großer Einzelhandelsketten usw. und greifen damit (symbolisch) den Staat und die bestehenden Eigentumsverhältnisse an. Sie haben verstanden, dass Gewalt konstitutiver Bestandteil einer kapitalistischen Gesellschaft ist. Ausgehend von der Überlegung, dass der Kapitalismus auf der Existenz von Klassen- und damit Interessengegensätzen basiert, liegt diese Erkenntnis alles andere als fern. Helfen kann dagegen nur bürgerliche Ideologie, die neben der (primär staatlichen) Gewalt das andere Element bildet, durch das die bestehenden Zustände trotz der benannten Gegensätze aufrechterhalten werden. Durch den zuvor forcierten Klassenkampf von oben (u.a. massiver Abbau von Sozialleistungen) verlor die Ideologie in Griechenland allerdings – wie es in solchen Situationen geschehen kann, aber keineswegs muss – an Überzeugungskraft.

Da - wie selbst große Tageszeitungen angesichts der jüngsten Wirtschaftskrise zugeben mussten - die von den Aufrührer_innen attackierte Vergesellschaftungsform leider recht weit verbreitet und auch hierzulande vorzufinden ist, lohnt es sich, die hiesigen Verhältnisse ebenfalls im Hinblick auf staatliche Gewalt näher zu betrachten.

Euer System ist Gewalt ...

Angesichts der Situation in der BRD von staatlicher Gewalt zu reden mag manchen zunächst absurd erscheinen. Wie oft sind schließlich durchschnittliche Studierende mit dieser Form der Gewaltausübung konfrontiert? Dass staatliche Repression nicht mehr als solche wahrgenommen wird, zeigt allerdings nur, wie weit sie schon als selbstverständlich verinnerlicht wurde. Diese Internalisierung treibt mitunter skurile Blüten. Als der Nazi-Aufmarsch in Göttingen am 29.10.2005 mittels Barrikaden und nahezu ohne Verletzte gestoppt wurde, war von verschiedensten Seiten von massiver Gewalt die Rede. Laufen derartige Veranstaltungen hingegen wie üblich ab, d.h. die Polizei knüppelt den Weg frei, sind solche Stimmen nur selten zu vernehmen. Knüppel und Pfefferspray, im Besitz von Demonstrierenden als gefährliche Waffen angesehen, scheinen in der Hand von Polizist_Innen zu Massagegerät und Duftzerstäuber zu mutieren.

Trotz dieser Verwirrung ist es kein Zufall, dass das, was auch der deutsche Staat für sich beansprucht, Gewaltmonopol heißt. Selbst Studierende können dieses unmittelbar zu spüren bekommen, wenn sie sich entschließen bestehende Zustände auch nur ansatzweise in Frage zu stellen. Was in Göttingen unter „Studierendenprotesten“ läuft, ist in der Regel zu harmlos, um die Staatsgewalt in grün (oder neuerdings blau) auf den Plan zu rufen. Bei einer für diese Stadt ungewöhnlich offensiven Aktionsform, der Besetzung des Uni-Präsidiums im Herbst 2005, sahen sich die Protestierenden jedoch mit einem massiven Polizeiaufgebot konfrontiert. Aus der Erfahrung in anderen Städten, dass aufmucken Kieferbruch bedeuten kann, enschlossen sich die Besetzer_ Innen ihre Zähne zu behalten und das Gebäude unmittelbar vor dem Einsatz der Polizist_Innen zu verlassen. Ihr Abzug wurde von den meisten Medien als „freiwillig“ rezipiert. Damit heißt Freiwilligkeit also sich der Gewaltandrohung zu beugen. Das ist der Kern der Illusion, die staatliche Gewalt nicht wahrnehmen will.

Diese Gewaltandrohung macht die tatsächliche Ausführung teilweise gar nicht mehr notwendig. Gewalt ist damit die Basis unserer Lebensrealität, ohne sich allerdings allen jeden Tag offen zeigen zu müssen. Neben der bereits erwähnten bürgerlichen Ideologie (deren Wirkmächtigkeit allerdings nicht unterschätzt werden sollte) ist es vor allem das Bewusstsein der zu erwartenden Repression, das die meisten Leute davon abhält, den Supermarkt zu verlassen ohne die zusammengesuchten Gebrauchsgegenstände vorher an der Kasse abrechnen zu lassen. Ebenso zahlen zwar die Meisten wohl eher ungern Miete, trotzdem bringen sie jeden Monat die Überweisung zur Bank. Sich von Bereitschaftspolizist_ Innen auf die Straße schleifen zu lassen, erscheint dann doch noch weniger attraktiv. Dass wilde Streiks hierzulande ebenfalls mehr als selten sind, hat in Teilen die gleiche Ursache. Schließlich gilt die „Friedenspflicht“ nicht für die Polizei, die in solchen Fällen die Anweisung zu durchaus unfriedlichem Einschreiten hat.

Leute mit entsprechendem Pass haben oft noch die Möglichkeit sich für die oben eingeführte Form von „Freiwilligkeit“ und damit den Erhalt ihrer körperlichen Unversehrtheit zu entscheiden. Diese Option entfällt für eine Gruppe von Menschen, deren bloße Existenz in der BRD (und anderen Staaten) offiziell nicht vorgesehen ist: Migrant_Innen ohne Aufenthaltsstatus. Hier tritt staatliche Gewalt gänzlich unverhüllt zu Tage. Den Höhepunkt der Repression bildet die gewaltsame Abschiebung, die brutale Verfrachtung in andere Länder und damit nicht selten in Folter, Elend und Tod. In Kombination mit der Aufrüstung der Grenzen werden Illegalisierte somit in eine gesellschaftliche Position gedrängt, die Gegenwehr effektiv verhindert und die Ausbeutung der Betroffenen weit über das sonst erreichbare Maß ermöglicht. Sie bilden die unterste Schicht des rassistisch segmentierten Arbeitsmarktes. Kein Wunder, dass Illegalisierte zugreifen, wenn sich dann doch mal die Möglichkeit zum Widerstand ergibt. Auch die kleinste Chance, die bestehenden Verhältnisse umzuwerfen und damit aus ihrer Elenden Situation auszubrechen, wollen viele von ihnen nicht ungenutzt lassen. In Griechenland gehören sie zu den aktivsten Akteur_innen der Revolte. Eine Gruppe albanischer Migrant_innen schrieb in einer öffentlichen Erklärung: „Diese Tage sind auch unsere! Diese Tage sind für die Migrant_innen und Flüchtlinge, die an den Grenzen, Arbeitsplätzen und in den Polizeistationen umgebracht wurden. [...] Sie sind für die, die wegen der Bestrebung eine Grenze zu übertreten ermordet wurden, die sich zu Tode schufteten, die weil sie den Kopf nicht senken wollten oder wegen nichts ermordet wurden. [...] Diese Tage gelten der täglichen Polizeigewalt, die ungeahndet und unbeantwortet bleibt.“

Anhand der angesprochenen Punkte wird nicht nur die Gewalttätigkeit des Staates evident, sondern er offenbart hier ausserdem seinen Klassencharakter: Anders als oft propagiert, ist die Staatsgewalt nie neutral, sondern steht immer auf der Seite des Kapitals. Sowohl die Sicherung nationalstaatlicher Interessen, als auch der Eigentumsverhältnisse erfordern den Einsatz repressiver Mittel. Gewalt ist somit struktureller Bestandteil des kapitalistischen Alltags. Nicht immer erledigt der Staat dabei die ganze Drecksarbeit alleine. Eine vielfach erprobte Strategie ist es, nicht-staatlichen reaktionären oder faschistischen Gruppierungen (temporär) freie Hand zu lassen oder mit diesen zu kooperieren. Jüngstes Beispiel hierfür ist Patras, wo die Polizei zusammen mit bewaffneten Mitgliedern der faschistischen Gruppe „Goldene Morgenröte“ gegen eine linke Demonstration vorging. Zeitlich etwas weiter entfernt, dafür aber geographisch näher, liegen die Pogrome in der Bundesrepublik anfang der neunziger Jahre: In verschiedenen Städten konnten Zusammenrottungen deutscher Bürger_innen weitgehend ungehindert die Unterkünfte von Flüchtlingen und Migrant_innen attackieren. Interveniert hat die Polizei aber durchaus, dann nämlich, als Antifaschist_ innen versuchten, sich gegen das Treiben des rassistischen Mobs zur Wehr zu setzen.

... eure Gewalt hat System.

Ausführende der staatlichen Gewalt sind Polizeibeamt_ Innen. Der Dienst im Auftrag der herrschenden Ordnung und deren ständige gewaltsame Durchsetzung bringen eine Persönlichkeitsstruktur hervor, die mit dem Begriff des „autoritären Charakters“ treffend beschrieben ist. Die Identifikation mit den bestehenden Verhältnissen ist Grundvoraussetzung für den Polizeidienst. Verstöße gegen oder gar bewusste Angriffe auf diese Ordnung werden von Polizist_ Innen deshalb durchaus persönlich genommen.

Nicht zufällig überschreiten Polizist_Innen daher immer wieder die Grenzen dessen, was ihnen rechtlich ohnehin schon erlaubt ist. Einer größeren Öffentlichkeit bekannt werden solche Übergriffe in der Regel nicht. Um in die Medien zu kommen müssen die Beamt_Innen schon entweder Journalist_ Innen oder die eigenen Kolleg_Innen in Zivil zusammenschlagen oder eben Leute umbringen. Die Empörung mag dann manchmal groß sein, doch ist stets von bedauerlichen Einzelfällen die Rede. Das Eingeständnis, dass sie dies nicht sind, kommt in der öffentlichen Wahrnehmung nur für andere Länder in Frage. So tauchen in bürgerlichen Medien z.B. immer wieder Berichte über polizeiliche Gewaltexzesse in Russland auf.

Die meisten Polizist_Innen entwickeln im Zuge ihrer Berufsausübung ein feines Gespür dafür, was sie sich auch über die geltenden Gesetze und Vorschriften hinaus erlauben können. Weil sie gerade dadurch ihre Funktion als Schützer_Innen der derzeitigen Zustände besonders gut erfüllen, brauchen sie mit Bestrafung nicht zu rechnen. Die Alternative von Treppe und Fahrstuhl führt auf vielen Polizeiwachen zu kurzen Verhörzeiten und den gewünschten Ergebnissen. Ebenso vereinen die alltäglichen rassistischen Übergriffe die Befriedigung von persönlichen Ressentiments und die Erfüllung staatlicher Zielsetzungen: Den Betroffenen wird klargemacht, dass sie in der BRD nichts zu suchen haben bzw. welche gesellschaftliche Stellung hier für sie vorgesehen ist. In Gesetzesform gegossen sähe ein solches Vorgehen nicht besonders gut aus („Schlagen sie den Kopf des Ausländers dreimal fest auf die Tischplatte“). Besonders dadurch, dass sie solche schriftlichen Anweisungen nicht benötigen, werden entsprechend agierende Exekutivbeamt_Innen so wertvoll: Sie üben massiv Gewalt aus und helfen gleichzeitig mit, die Illusion der Gewaltfreiheit aufrecht zu erhalten.

Weil die Herrschenden wissen, was sie an ihnen haben und Verunsicherung im Polizeiapparat vermieden werden soll, wird in der Regel auch dann Nachsicht geübt, wenn die Büttel_innen mal etwas zu sehr über die Stränge schlagen und sich öffentliche Aufmerksamkeit nicht mehr umgehen lässt. Lange suchen kann, wer nach Mörder_innen im Dienst recherchiert, die für ihre Taten auch verurteilt worden sind. Dass der Bulle, der Alexandros erschoss, überhaupt in Haft genommen wurde, zeigt nur, wie groß die Angst vor der ausgebrochenen Revolte ist. In Deutschland scheint eine solche Angst völlig unbegründet zu sein, zumal wenn die Getöteten keine Deutschen sind. Oury Jalloh und Laye Konde waren körperlich unversehrt, bevor sie in die Hand von Polizist_ innen gerieten. Kurze Zeit später waren beide tot. Laye Konde, den die Beamt_innen verdächtigten mit Drogen zu dealen, wurde so lange gewaltsam Brechmittel und Wasser eingeflößt, bis der Tod durch Ertrinken eintrat. Oury Jalloh verbrannte, an allen Gliedern fixiert, in einer Dessauer Polizeizelle, nachdem ihm zuvor noch Nase und Mittelohr zertrümmert worden waren. Angeblich soll er, obwohl er vorher mehrfach durchsucht wurde und sich nicht bewegen konnte, die feuerfeste Matratze, auf der er lag, aufgeschlitzt und die Füllung mit einem Feuerzeug angezündet haben. Sowohl der Polizeiarzt, der Laye Konde tötete, als auch die Polizist_innen, in deren Gewalt Oury Jalloh starb, wurden Anfang Dezember 2008 freigesprochen.

Für das Ende der Gewalt

Für an Emanzipation interessierte Menschen kann die Polizei in keiner Situation „Freund und Helfer“ sein. So jovial manche Beamt_Innen auch auftreten mögen, keine_R sollte sich darüber hinweg täuschen lassen, dass ihre Arbeit die Aufrechterhaltung von Herrschaft ist. Die Ansage „Ich mach‘ hier nur meinen Job“ sollte deshalb auch nicht als freundlicher Hinweis darauf mißverstanden werden, dass keine persönlichen Antipathien bestehen, sondern als das was sie ist: Eine kaum verhüllte Gewaltandrohung.

Alexandros Grigoropoulos, Oury Jalloh, Laye Konde, Halim Dener, Conny Wessmann, Günther Sare, Benno Ohnesorg, Philipp Müller ... Wir werden die Opfer von Polizeigewalt nicht vergessen. Ebensowenig vergessen wir aber die anderen, die diesem mörderischen Gesellschaftssystem tagtäglich zum Opfer fallen, sei es durch Hunger, Ausbeutung, unbehandelte Krankheiten, Verzweiflung, Krieg ... Kapitalismus bedeutet permanente Gewalt. Wir können uns mit den bestehenden Zuständen nicht abfinden. Für das Ende der Gewalt!

„There‘s some way to stop this. It‘s not like lightening or earthquakes. We‘ve got a bad thing made by men, and by God that‘s something we can change.“ (John Steinbeck, The Grapes of Wrath)

Basisgruppe Geschichte

Erschienen am: 13.01.2009 zuletzt aktualisiert: 13.01.2009 18:25 AutorIn: email-address