Interview: La estrategia del caracol – Die Strategie der Schnecke

Betonzeit - kaum mehr möglich, den Kopf in den Sand zu stecken1

Wer kennt es nicht? Das Gefühl nicht erwünscht zu sein. Das Gefühl nicht akzeptiert zu werden, weil deinem Gegenüber deine Nase, deine gute Laune, dein gutes oder seiner Meinung nach eben dein schlechtes Aussehen nicht passt. Deinem Gegenüber/deiner Gegenüberin passt es nicht, dass du Kritik äußerst oder dass es dich nicht stört nicht in Kleidergröße 36 zu passen. Du wirst diskriminiert, weil du schwul bist, weil du keinen deutschen Pass hast oder du zwar die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, aber eben nicht das „entsprechende“ Aussehen dazu. Vielleicht bist du aber auch wunschlos glücklich (wenn es das denn gibt) und möchtest, dass es anderen auch irgendwann so gehen wird und vielleicht bist du auch gar nicht von strukturellen Unterdrückungsmechanismen betroffen (wenn es das denn gibt), die leider überall in jeder und somit auch in dieser Gesellschaft (Homophobie, Patriarchat, Antisemitismus, Rassismus oder Ausgrenzung durch Armut) zu finden sind und somit auch hier in Göttingen. Dennoch fühlst du oder kommst du vielleicht irgendwann in die Situation, dass es Leute in deinem Umfeld gibt, die dich nicht mögen aus welchen Gründen auch immer.

Angesichts dieser Ungerechtigkeit fragst du dich vielleicht, unter welchen Umständen und aus welchen Gründen sich derartige Aversionen gegen dich und gleichermaßen Betroffene entwickeln. Eine schwierige Frage, auf die es viele Antworten gibt und deren dezidierte Beantwortung in diesem Text leider nicht möglich sein wird. Allerdings möchte ich im folgenden Text davon berichten wie an der Universität Göttingen ein linker Freiraum, das Autonomicum, geschaffen wurde, nicht nur mit dem Ziel konkret Lebensumstände zu verbessern, sondern auch um dafür ursächliche gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse reflektieren und zu ihnen alternative Lebensweisen und Einstellungen zu entwickeln. Der Versuch eben, oben beschriebene Ausgrenzungsmechanismen zumindest an Orten, an denen wir uns gerne aufhalten, zu beseitigen.

Ein kurzer Rückblick

16.1.08: Eine schnell anwachsende Gruppe Studierender hat im Übergang zwischen ZHG und Blauem Turm einen Raum besetzt und ist einfach nicht rausgegangen. Verzweifelt redeten der Chef des Gebäudemanagements und Vizepräsident auf die Besetzer_innen ein, ihr Vorgehen sei illegal und könne nicht geduldet werden. Ihr Verhalten sei dafür um so legitimer und das sei ihnen auch alles ziemlich schnurz, was die Kollegen vom Präsidium so finden würden, antworteten die Studierenden.

Das fanden auch andere. Der Raum wurde gut genutzt, gewann Sympathien und wurde schließlich in einer frühmorgendlichen Polizeiaktion geräumt. ‘Das musste sein, wir brauchen den Raum‘, befand das Präsidium. Um ihn dann bis zum nahenden Semesterende zu sperren. ‘Wir brauchen den Raum auch‘, befanden die Nutzer_innen des Raumes – und zogen mit einer kraftvollen und entschlossenen Demonstration durch die Stadt, ließen sich auch von der Polizei nicht am Betreten des Campus abhalten – und standen schließlich wieder vor dem Raum, aus dem sie gerade heraus getragen wurden.

Auf eine Wiederbesetzung eines oder mehrerer Räume wurde verzichtet – doch die Botschaft war eindeutig: das lassen wir nicht mit uns machen. Wir wollen einen Raum, wir werden ihn uns nehmen und ihr könnt im Zweifelsfall auch nichts dagegen tun. Die Stimmung war gut und es herrschte allenthalben Entschlossenheit. Was auch am Präsidium nicht spurlos vorbeigezogen ist. Bereits am nächsten Tag hieß es, nun seien Lösungen möglich, die gestern noch nicht möglich gewesen seien. Und so zogen sich die verantwortlichen Menschen zur Klausur zurück – und präsentierten einen neuen Raum. Neu, weil es ihn vorher noch nicht gab. Seitdem ist der Raum, das Autonomicum, zu finden im Erdgeschoss des Blauen Turms und jede_r, die_der Interesse an herrschaftsfreien Orten hat ist herzlich willkom men.

Free for all and all for free

Alles schön und gut denkst du dir vielleicht. Am 16.1.08 haben studentische Proteste also bewirkt, dass ein Raum für die Studierenden eingerichtet wurde. Doch was war das Ziel hinter diesen Protesten? Und was ist das besondere an diesem Raum? Zur Beantwortung dieser Fragen folgt ein kurzes Interview mit einer der damaligen Besetzer_innen.

F: Welches Ziel verfolgst du mit der Schaffung von linken Freiräumen wie dem Autonomicum?

A: Dass diese Welt nicht perfekt ist, weiß denke ich jede_r. Dass sie daher verändert werden sollte, ist folglich auch nicht schwer nachzuvollziehen. Die Frage nach dem Wie? ist leider schwieriger zu beantworten.

Die Schuld an den gesellschaftlichen Verhältnissen anderen in die Schuhe zu schieben ist nicht nur verkürzt, sondern dass jede_r Einzelne Teil dieser Verhältnisse und ihrer ständigen Reproduktion ist. Die Veränderung des großen Ganzen sollte also u. a. auch mit der Veränderung von jeder Einzelperson beginnen. Dazu braucht es herrschaftsfreie Räume, in denen die Möglichkeit besteht gesellschaftliche Verhältnisse zu reflektieren, Alternativen auszuprobieren und sich in der Selbstorganisation zu üben. Räume, die nicht nach kapitalistischen Maßstäben betrieben werden, sondern in der jede_r die Möglichkeit hat anwesend zu sein, auch wenn sie/ er kein Geld hat um den Kaffee zu zahlen.

Außerdem kann ein Freiraum konkret die Lebensrealitäten der Studierenden verbessern. Es ist doch schön, einen Raum in der Uni zu haben, an dessen Einrichtung mensch selbst mitgewirkt hat, wo ich mein Butterbrot in den Kühlschrank legen kann, damit der Aufstrich noch frisch ist, wenn ich es nach 4 Stunden Uni dann endlich verzehren will, wo ich etwas zu trinken bekomme, auch wenn ich mein Geld zu Hause vergessen habe oder wo ich einfach nur nette Leute treffe mit denen ich gerne meine Pause auf einem gemütlichen Sofa verbringe anstatt auf einem harten Stuhl.

Und wenn es einem_r nur darum geht informiert zu sein über Hochschulpolitik oder kritische Veranstaltungen in der Stadt, die nichts mit Hochschulpolitik zu tun haben, lohnt sich ebenfalls ein Abstecher ins Autonomicum, wo ein Haufen Infomaterial vorzufinden ist.

F: Wie wird versucht Herrschaftsverhältnisse zu minimieren?

A: Wir versuchen das über die "Verwaltungsstruktur" des Freiraums zu erreichen. Organisatorische Aufgaben wie das Einkaufen von Kaffee etc. wird durch die verschiedenen Basisgruppen oder Einzelpersonen erledigt, was aber keineswegs bedeutet, dass diese darüber bestimmen können, was im Freiraum passiert. Entscheidungen werden im Freiraumplenum, das jeden Freitag in der zweiten und vierten Woche im Monat stattfindet, getroffen. In diesem werden gemeinsam alle Probleme besprochen, die ins Plenum hineingetragen werden, Lösungen gefunden, Aufgaben verteilt und verschiedene Regeln für das Zusammenleben erarbeitet. Das Plenum ist offen für alle Leute. Daher ist gewährleistet, dass jede_r die Möglichkeit bekommt mitzubestimmen.

F: Glaubst du bzw. beobachtest du, dass Freiräume frei sind von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen?

A: Es wäre ignorant zu behaupten, dass es in einem linken Freiraum keine Herrschaftsmechanismen gäbe. Menschen werden unterschiedlich sozialisiert (z.B. eher männlich oder eher weiblich) und bringen daher unterschiedlichste Grundvoraussetzungen mit in ein Projekt wie den Freiraum.

Ungleichgewichte entstehen z.B. weil sich das Redeverhalten Menschen unterscheidet, Persönlichkeitsstrukturen verschieden sind (Unsicherheit versus Dominanz), Wissenshierarchien unterschiedlichster Erfahrungen bestehen.

Diesen Problemen versuchen wir zu begegnen indem alle Leute in die Diskussionen einbezogen werden, wir gemeinsam Gesprächsregeln erarbeiten und versuchen zu gewährleisten, dass Probleme offen kommuniziert werden können. Je mehr Leute sich also an den Plena beteiligen desto besser können nicht offensichtliche Herrschaftsstrukturen aufgedeckt und diskutiert werden.

In der Vergangenheit wurde beispielsweise besprochen, dass homophobe, rassistische sexistische Aussagen oder Übergriffe (hierbei gilt als wichtigstes Prinzip die Definitionsmacht der Betroffenen) im Freiraum nicht geduldet werden sollen. Falls dieser Vereinbarung oder nicht nachgekommen wird, kann das gegebenenfalls zum Ausschluss von Personen führen.

Alles in allem denken wir, dass durch diesen Anspruch der Freiraum zwar nicht frei ist von Herrschaftsverhältnissen. Allerdings bietet er aber vielmehr als andere Orte in dieser Gesellschaft Leuten, die sonst eher ausgeschlossen sind, die Möglichkeit zur Mitbestimmung.

F: Wie können Einzelpersonen am Freiraum mitwirken?

A: Zunächst gibt es natürlich das Freiraumplenum an dem Leute, die Interesse haben, teilnehmen können. Darüber Menschen gebraucht, die für eine Woche Einkäufe, Putzen, das Blumengießen oder hinaus werden immer die Verantwortung für andere Besorgungen übernehmen. Kreative Ideen sind immer erwünscht. Falls du also eine Idee hast, was im Freiraum verändert werden könnte, trag deinen Wunsch einfach ins Plenum hinein.

Ort: ZHG, Blauer Turm, Erdgeschoss

Öffnungszeiten: Mo. - So. 08:00h - 24:00h

Plenum: 16.00 Uhr, jeden 2. und 4. Freitag im Monat im Autonomicum


1) Zitat aus dem Betanien, Berlin

Erschienen am: 12.06.2009 zuletzt aktualisiert: 12.10.2009 15:02 AutorIn: email-address