Deutschland ist kein Grund zum Feiern!

Eine Handvoll Gedanken zum „Super-Deutschland-Jahr 2009“

Das Jahr 2009 mit seinen unsäglichen Ausprägungen soll in dieser Textreihe zum Anlass genommen werden eine (notwendig unvollständige) Kritik der Nation zu formulieren. Dabei findet im ersten Teil ein Abriss historischer Voraussetzungen statt. Im zweiten Teil geht es um die deutsche Geschichtspolitik und das Paradigma der Normalisierung. Im dritten Teil soll auf die popkulturelle Manifestierung des neuen Nationalgefühls eingegangen werden.

[1989: Mauerfall]
1989: Mauerfall

Erstmal 60 Jahre Grundgesetz. Für die, die wollten, auch 2000 Jahre Varusschlacht. Und auf jeden Fall 20 Jahre Mauerfall: 2009 ist der nationale Freudentaumel bis in die letzte Ecke des piefigsten Kaffs der BRD in Gestalt rührseliger Zeitlupenbilder besoffener Deutscher, die gegen eine Mauer rennen, auf allen Fernsehkanälen, Supersonderextraspecials in sämtlichen Zeitungen und jeder Menge Gedenkfeierlichkeiten vorgedrungen. Die Erinnerung an ein einstimmiges „Wir sind das Volk!“ war wirklich ergreifend, die Erinnerung an zertrümmerte Fensterscheiben und nationalsozialistischen Terror im November 1938 hingegen kleiner Wermutstropfen bei der sonst so reizenden Feierei. Und im Teutoburger Wald bei Detmold ließ sich 2009 stolz sein auf das vermeintliche frühzeitliche Erbe: Unter dem Motto „Imperium – Konflikt – Mythos“ begab die hohe Politk sich in die teutonischen Urwälder um nach der gemeinsamen Identität der Deutschen zu suchen.

Jede Geschichtsstudentin ab spätestens dem dritten Semester wird eifrig mit dem Kopf nicken, wenn die Konstruktion von Nationen Thema ist. Dass diese antinapoleonischen Nationalisten, diese Burschenschafter und diese Antisemiten sich da was in den Kopf gesetzt haben, das steht außer Frage. Doch seltsamerweise scheint jene Gemeinschaft an Leuten, die sich fahneschwenkend und bierselig zu jeder Fußball-WM der Männer zusammenfindet, etwas gänzlich Anderes zu sein – geht es doch hier um „gesunden Patriotismus“, nicht diesen völkischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts, und überhaupt: „Man wird doch wohl noch sagen dürfen...“. Die Feierlichkeiten um den Mauerfall zeigen eine geläuterte Nation, in der man mal wieder stolz sein darf. Sich selbst und seine sogenannten freiheitlich-demokratischen Errungenschaften lassen sich dann in Gegenwart internationaler Politik-Prominenz am Brandenburger Tor abfeiern. Warum aber fragt sich die Kritikerin, soll das eine mit dem anderen nichts zu tun haben?

Und: wer feiert da eigentlich was?

[Nationaler Freudentaumel zur WM]
Nationaler Freudentaumel zur WM

Die Nation erscheint als überhistorisch (selbst die Geschichtsstudentin ist sich hier dann auch nicht mehr ganz sicher, warum das mit der Nation jetzt so modern sein soll). Deutsche traten schließlich schon in Gestalt der Germanen im Teutoburger Wald eindrucksvoll auf den Plan, als sie Varus und seinen Legionen mal so richtig aufs Maul gaben. Und wie die Deutschen drauf sind, zeigt sich schon im Nibelungenlied, wo man die deutsche Treue in epischer Breite geschildert beschrieben zu finden meint. Schiller und Goethe sind natürlich die deutschen Dichter und Denker. Nachdem der Erbfeind Frankreich in die Schranken verwiesen wurde, gab‘s dann auch endlich einen geeinten deutschen Staat, aber das war ja selbstverständlich nur Formsache. Schließlich ein Krieg, der irgendwie einen bitteren Nachgeschmack hinterließ und dann ein zweiter, der, nun ja, irgendwie dunkle 12 Jahre darstellt. Aber zum Glück ist das vorbei und gelernt haben wir auch draus.

Nation...? Wer ist eigentlich diese Nation?

Nation ist erstmal nicht mehr und nicht weniger als eine historische Zwangskonstruktion einer „vorgestellten Gemeinschaft“. Menschen, die sich untereinander nicht kennen (warum sollten sie auch?) meinen dennoch etwas gemein zu haben: Sie leben auf einem durch Grenzziehung gekennzeichneten gemeinsamen Territorium, greifen auf die gleichen Mythen zurück (zum Beispiel Hermann der Cherusker und die Varusschlacht oder die Nibelungen), pflegen historische Erinnerungen und finden sich in einer gemeinsamen Ökonomie wieder. Dabei wird die Nation – seltsamerweise – als Gemeinschaft verstanden weil man sie sich, unabhängig von realer Ungleichheit und Ausbeutung, als ‚kameradschaftlichen‘ Verbund von Gleichen vorstellt.

Diese Gleichheit muss allerdings als tatsächliche angenommen werden, sonst würde gleich das ganze Konstrukt den Bach runter gehen. Der Staat (der als die Institution der Nation angesehen wird – eine Nation wird zu oder gibt sich einen Staat) stellt sich als Verbund von Gleichen dar: Und das nicht zufällig. Im Kapitalismus braucht es diese Gleichheit, denn im Warentausch begegnen sich die Warenbesitzer_innen als Gleiche. Wie da geht? Über den Wert wird vom Konkreten einer Ware abstrahiert, ihre besonderen Eigenschaften sind egal und nur in einer Abstraktion lassen sie sich tauschen. Mit den Menschen, die diesen Tausch vollziehen ist es dann ähnlich: auch sie begegnen sich in Absehung ihrer konkreten Person, um vor dem Staat als gleiche Rechtssubjekte auftreten zu können und somit den Tausch erst möglich zu machen. Waren es im Feudalismus die Stände, die die Gesellschaft strukturierten, und Herrschaft an persönliche Beziehungen geknüpft (der Feudalherr herrscht über Untertanen, die Abgaben zu leisten haben), so bringt der kapitalistisch-bürgerliche Staat demgegenüber Freiheit.

Dabei sind in einer kapitalistischen Gesellschaft, die notwendigerweise immer hanebüchene soziale Unterschiede aufweisen muss, die Leute – wie man tagtäglich sieht und spürt – meilenweit davon entfernt, sich als Gleiche zu begegnen. Gleich sind sie weder an Besitz, noch (als Konsequenz davon) an Klassenzugehörigkeit noch an sonst etwas. Die Vorstellung der Gleichheit ist eine gedankliche Abstraktion, die in formalen Regelungen ihre reale Durchsetzung findet.

Unter Anderem die Idee einer irgendwie gearteten Allgemeinheit und eines Allgemeinwohls hält dann dieses klapprige Gefüge zusammen. Mit der Vorstellung im Kopf, man sei Teil dieser Allgemeinheit, zu deren Fortbestand man irgendwie beitragen müsse, damit im Gegenzug auch was für eine_n selber rausspränge, lässt es sich dann doch malochen und Steuern bezahlen. Nichtsdestotrotz dient das Gemeinwohl in dieser Gesellschaftsform ganz und gar nicht dem Wohl der Menschen. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft verdammt ihre Individuen zur Konkurrenz gegeneinander, und macht sie gleichzeitig zu Kompliz_innen im weltweiten Hauen und Stechen der Standorte. Das ist der wesentliche Inhalt von „Freiheit“ und „Geichheit“ im kapitalistischen Staat.

Die Nation vermag dabei die diversen Widersprüche zu kitten, die die kapitalistische Vergesellschaftung so mit sich bringt. Sie lenkt die Aggression darüber, dass trotz vermeintlich so rationaler Organisierung des Ganzen nur Kartoffelbrei statt Lachsfilet auf meinem Teller liegt, auf ein Außen. Am Beispiel von Antisemitismus etwa lässt sich aufzeigen, wie das unverstandene Prinzip des Warentauschs sowie das aufklärerisch-liberale Versprechen von Glück und Gleichheit in Projektion auf jene gelenkt wird, die vermeintlich auf kosten Anderer am meisten profitieren: die Juden.

Das Innen hingegen, also die Gemeinschaft der Nation, basiert auf einer Gefühlsbindung, die auch durch Symbole – schwarz-rot-goldene Autofähnchen – und Zeremonien – Public Viewing zur WM – hergestellt wird. Diese Gefühlsbindung verstärkt noch die Abgrenzung zu anderen. Die so hergestellte Gemeinschaft kommt denn auch dem innigen Bedürfnis des einzelnen Subjekts nach Versöhnung mit sich selbst, nach der Harmonie einer als vormals intakt gedachten Einheit und nach einem ganzen Ich entgegen, das nicht durch die Komplexität der Gesellschaft zerrissen ist. Dieses Bedürfnis führt zu dem Verlangen, das Nicht-Identische auch außerhalb des eigenen Ichs zu verfolgen und zu vernichten. Die nationale Gemeinschaft, die vermeintlich der modernen Gesellschaft gegenübersteht, scheint dann die nötige Harmonie bieten zu können.

Was meine, deine, jede Familie mit Deutschland zu tun hat...

Die Gefühlsbindung an die Nation läuft tatsächlich auch über die Idee der Familie. Dem gesetzlich restriktiven Staat und einer komplexen Gesellschaft auf der einen Seite, steht die wohlumsorgende, emotional aufgeladene Nationalgemeinschaft auf der anderen Seite gegenüber. Gegen die feindliche, vom Konkurrenzprinzip beherrschte Welt draußen, wird das freundliche Heim gesetzt, in dem die treu sorgende Frau nur darauf wartet, dem Ehemann ein Kissen unters müde Haupt zu schieben. Diese Vorstellung einer klaren Rollenverteilung der Geschlechter entstand so erst mit der Aufklärung, in deren Verlauf sich so etwas wie Öffentlichkeit und Privatheit – in der Form, wie wir das kennen – durchgängig verfestigte: die fürsorgende, sinnlich-emotionale Frau, der rationale, die Familie ernährende und ihr vorstehende Mann.

In der Familie sind die Individuen, im Gegensatz zum „Draußen“ des Staates keine Vertragspartner_innen, sondern Mitglieder: nur hier wird der Wert der Gemeinschaft hochgehalten. Die Familie kann also als Keimzelle der nationalen Gemeinschaft – und wenn wir schon dabei sind – des „Volkes“ – angesehen werden. Die natürliche Ordnung der Nation kann nur hier gelernt werden: Vater Staat und Mutter Natur. Während auf der einen Seite der kalte Gesellschaftsvertrag bittere Realität ist, steht auf der anderen Seite die Liebe des Individuums zur Nation und – vermeintlich – der Nation zum Individuum.

Nicht nur als Geborgenheit und Sicherheit gebende liebevolle Mutter und (damit Vermittlerin des nationalen Prinzips), sondern auch in bevölkerungspolitischer Hinsicht ist die Mutter zentral. In dieser Funktion stellt sie letztlich den Grund für den Einschluss ins nationale Kollektiv dar: ihre aktive nationale Gesinnung ist ein kaum zu überschätzender ‘völkischer‘ Sozialisationsfaktor.

Während Männlichkeit wehrhaft und damit militärisch-sportlich gedacht wurde (das formte sich zum Beispiel zur Zeit der antinapoleonischen Kriege und mit den Turnvereinen des frühen 19. Jahrhunderts), galt die deutsche Frau natürlich-biologischerweise als Kulturträgerin des Volkes (wobei hier auf eine „Volkskultur“ abgehoben wird, nicht auf Kultur im Gegensatz zu Natur). Mit dieser Rolle war sie elementar für die Nation. Bürgerliche Frauenverbände Ende des 19. Jahrhunderts nutzten diese Idee für ihre Bestrebungen nach Gleichheit und eigenständiger Staatsbürgerschaft. Das Ideal der „geistigen Mütterlichkeit“ sahen sie in dieser Zeit vor allem dadurch gefährdet, dass Kolonialisten sexuelle Beziehungen mit Frauen aus den Kolonien eingingen. Kinder, die aus diesen entstanden, bekamen nach geltendem Recht die über den Vater vererbte deutsche Staatsbürgerschaft. Doch die in Kolonialvereinen organisierten Frauen forderten, nur Kinder deutscher Eltern als Deutsche anzuerkennen um die „Rassereinheit“ zu garantieren. Damit wurde die patrilineare Vererbung in Frage gestellt und im gleichen Atemzug männliche Rechte beschnitten. Die Idee eines reinen Deutschtums nutzten die Frauen auch, um sich eine Dominanzposition gegenüber den kolonisierten Frauen bewahren zu können. Über diese Idee, die elementaren Bewahrerinnen des Volkskörpers zu sein, hielt endgültig ein völkisches Moment Einzug in den deutschen Nationalismus.

Die Nation ist also in ihrer physischen und ideellen Reproduktion auf den weiblichen Beitrag angewiesen. Innerhalb der Sphäre weiblicher Zuständigkeit, die infolge ihrer national bedeutsamen Funktion einer ständigen Politisierung unterlag, fanden die bürgerlichen Frauen einen Ansatzpunkt für Partizipationsforderungen und argumentierten entlang einer spezifischen nationalistisch-völkischen Argumentationslinie.

Die männliche deutsche Identität entwickelte sich vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Dominanz gegenüber dem weiblichen Geschlecht, gegenüber den Kolonisierten sowie den Proletarier_innen der eigenen Nation . Der „deutsche Mann“ gelangte dabei nur zu sich selbst, indem er sich als explizit un-weiblich erwies: dafür mussten die eigenen weiblichen Anteile seiner selbst abgespalten werden. Die Verdrängung und Disziplinierung führt zu einer Projektionsleistung, in der eine metaphorische „Verweiblichung“ von Juden, Franzosen etc. stattfand und die suggerierte, dass der Sieg ebenso „natürlich“ auf der Seite der deutschen Nationsverfechter liegen müsse, wie Männer Frauen überlegen waren. Das dem Realitätsprinzip der bürgerlichen Konkurrenz-Gesellschaft nicht entsprechende Weibliche wurde abgewertet.

Mit einer Definition als Instrument zur Herstellung einer Einheit von Staat, Kapital und Bevölkerung ist es also für die deutsche Nation nicht getan. Dem deutschen Nationalismus wohnt das Spezifikum des Völkischen inne. Im Gegensatz zu Frankreich, wo die Nation Ausdruck eines souveränen Zusammenschluss des Dritten Standes ist, läuft die Zugehörigkeit in Deutschland über die Kategorie „Volk“. Dies impliziert immer eine bestimmte Naturhaftigkeit, eine Unhinterfragbarkeit von Nation. Der völkische Nationalismus ist immer Instrument der Desintegration: das vermeintliche personifizierte Nicht-Identische soll hier aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen werden, der Jude, der Franzose.

Warum, wenn alle wissen, dass nicht alle gleich sind, hält sich dennoch hartnäckig dieses Gerücht? Einerseits funktioniert die Wertvergesellschaftung eben nur, wenn sich als Gleiche aufeinander bezogen wird. Dazu ist es auch ein Zwangszusammenhang, der mithilfe des staatlichen Gewaltmonopols durchgesetzt wird. Aber darüber hinaus fühlen sich alle auch prima wohl. Ein echter Deutscher zu sein ist gefühlt, und im Konkurrenzalltag letztlich auch faktisch, eine deutlich angenehmere Position, als wäre man lediglich Horst aus irgendeiner heruntergekommenen Vorstadt.

Fortsetzung in der nächsten Ausgabe...

Erschienen am: 13.01.2010 zuletzt aktualisiert: 13.01.2010 20:50 AutorIn: email-address