VG-Besetzung 2.0?

Wenn wir es geschafft haben, unsere Wut und unsere Betroffenheit über die derzeitigen Zustände im Bildungssystem auf die Straße zu tragen oder durch Besetzungen & Blockadeaktionen kundzutun, so sollte es nunmehr darum gehen, eine politische Perspektive zu entwickeln. Dabei ginge es darum, zu begreifen, in welcher Situation wir uns befinden, welche Ansprüche wir an den Protest stellen und wie wir gesellschaftliche Veränderungen durchsetzen können. Es gilt, die Forderung nach selbstbestimmten Leben und Lernen, die als Aushängeschild des Bildungsstreiks diente, zu konkretisieren und aufzuzeigen, welche gesellschaftlichen Bedingungen wir schaffen müssen, um Selbstbestimmung zu erreichen.

Dass die fehlende Auseinandersetzung mit den oben genannten gesellschaftlichen Bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben und Lernen kritisiert wird, ist sicherlich kein isoliertes Problem der Göttinger Proteste, sondern bereits in der Konzeption des aktuellen Bildungsstreikprojekts angelegt. So ging es von Beginn an vorrangig darum, Medienpräsenz zu schaffen und möglichst viele Studierende zu gewinnen, um eine breite Protestfront zu bilden. Die Mobilisierungserfolge blieben nicht aus – die Proteste wurden von Politiker*innen und Medien aufgegriffen - und nach außen konnte die Existenz einer „Bewegung“ vorgespielt werden. Differenzen und Interessensgegensätze innerhalb der „Bewegung“ wurden dabei unter den Tisch gekehrt und zu „Pluralität“ umgedeutet - schließlich wollen wir ja alle dasselbe und leiden unter demselben System!

Doch das stimmt nicht! Schon allein die Existenz von RCDS und Burschenschaften sollte klarmachen, dass eben nicht alle gleich sind und nicht alle dieselben Bedürfnisse und Interessen haben. Die Studierendenschaft ist keine homogene Gruppe. Eine Interessensgleichheit der Studierenden zu konstruieren, bedeutet soziale, geschlechtliche, politische, ökonomische und andere strukturelle Unterschiede zu verleugnen und auszublenden.

So nimmt der ADF-AStA nicht am Bildungsstreik teil und verkündet nach den Protesten vollmundig: „Im Rahmen des Bildungsstreiks sind einige konstruktive Forderungen in den Fokus der breiten Öffentlichkeit gelangt. Jetzt ist es die Aufgabe der studentischen Gremienvertreter – sowohl universitätsweit als auch in den Fachschaften – diese konkret umzusetzen. Wenn dies nicht gelingt, ist der Bildungsstreik gescheitert.“(ADF Wadenbeißer Nr.81 – 6.7.2009, Seite 5). Als Interessensvertretungspartei beansprucht die ADF „für die Studierenden zu sprechen“ und Servicearbeit zu leisten, organisiert Veranstaltungen mit dem Unipräsidium1 und meint die Probleme der Studierenden damit erfassen zu können.

Die Proteststrukturen wie Vollversammlungen auf Fach- und Fakultätsebene, Workshops und Projektgruppen im Sommersemester waren hingegen basisdemokratisch aufgebaut und verzichteten bewusst auf Sprecher*innen und Vorsitzende. Studierende, die sich organisieren und für ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse kämpfen, brauchen keine Stellvertretung. Kein Wunder also, dass die ADF das Ende des Bildungsstreiks herbeisehnt. Schließlich lobt der AstA die Bolognareform und sieht die Probleme der derzeitigen Verhältnisse lediglich in der Umsetzung.

 

Ein weiteres Beispiel, wie unvereinbar die gesellschaftspolitischen Vorstellungen, Ziele und Interessen in der Studierendenschaft sind, bildet die öffentliche Aufforderung des RCDS Göttingen an das Präsidium die VG-Besetzer*innen polizeilich räumen zu lassen (also zur Gewalt gegen Studierende aufruft). Dies ist nicht nur der belächelnswerte Versuch einiger rechter Schwachköpfe, Aufmerksamkeit zu gewinnen, sondern zeigt vielmehr, wie sich eben Einige unter den herrschenden Verhältnissen auch ganz wohl fühlen können.

Auch in den Medien und von den an dem Bologna Prozess beteiligten Institutionen wird selbstverständlich jedes politische Bewusstsein der Studierendenschaft abgelehnt. Die Forderungen und Stellungnahmen der Studierenden sollen sich in dem von ihnen abgesteckten Bereich bewegen. Sofern die Studierenden sich einfach nur über Leistungsdruck, unzureichende Ausbildung und kaltes Mensaessen beschweren, kann es einfach als Hilferuf ausgelegt werden: die Politik sei nun an der Reihe, die Ursachen und Mängel zu erkennen und zu beheben. Die Fremdbestimmung, durch die überhaupt erst die Bolognareform verordnet wurde, wird so also noch einmal legitimiert.

Die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) erklärte: „Ich kann gut nachvollziehen, dass viele Studierende ihre Situation nicht akzeptieren können und für eine Verbesserung der Studienbedingungen auf die Straße gehen. Die schlechte Betreuungsrelation stellt in der Tat eine Zumutung dar. Hier besteht dringender Handlungsbedarf und es ist richtig, dafür den Staat in die Pflicht zu nehmen.“ Die politischen Forderungen und Feststellungen des Bildungsstreiks werden von den Herrschenden erwartungsgemäß weder geteilt, noch unterstützt: «Ich lehne den Versuch ab, den Bologna-Prozess rückgängig zu machen. Wir sollten die Reform jetzt nicht in Frage stellen. Ihre Erfolge und Vorteile sind deutlich erkennbar: Die Studierenden können aufgrund der strukturierten Programme ihr Studium besser planen. Sie wissen, welche Kompetenzen sie erwerben. Da die Inhalte auf ihre Arbeitsmarktrelevanz geprüft werden, wird der Übergang in den Beruf erleichtert. [...] Verschulung und zu hoher Prüfungsdruck sind aber keine strukturellen Probleme, sondern Herausforderungen, die sich durch eine bessere Studienorganisation bewältigen lassen. Die Hochschulen haben das erkannt und entwickeln bereits Lösungen.[...] Auch die von den Streikenden geforderte bedingungslose Abschaffung von Studienbeiträgen stößt [...] auf Ablehnung: [...] Die große Mehrzahl der Studierenden begreift eben Studienbeiträge als Chance, die Qualität der Lehre zu verbessern», so die HRK-Präsidentin. Die Bundesbildungsministerin tat die Proteste von fast 270.000 Schüler*innen, Studierenden und sozialen Bewegungen plump als gestrig ab.

“Der Bildungsstreik adressiert offensichtliche Defizite, zieht aber falsche Schlüsse“, ergänzte Thomas Sattelberger, Personalvorstand der Deutschen Telekom AG und Vorsitzender des BDA/BDI/HRK-Arbeitskreises Hochschule/Wirtschaft.

Erst am 25.11.2009 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Kommentar, in dem die Interessen der Studierenden, sich Luft und Raum zu verschaffen, vollkommen geteilt werden, eine politische Positionierung in „allgemeinpolitischen Fragen“ jedoch als Schwächung der Bewegung gedeutet und abgelehnt wird. Ebenfalls wird die Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Gruppen kritisiert.

Mit anderen Worten: nicht über den Tellerrand schauen und sich brav in die vorgegebenen Hierarchien und Entscheidungswege einfügen. Die jetzige Form des Bildungsstreiks kommt der Politik gelegen. Sie sieht lediglich „Umsetzungsprobleme“ der Bologna-Reform (und kein Grundsätzliches) und verlangt von den Hochschulen eine Reform der Reform. Deshalb wird auch alles darangesetzt, die Proteste zu spalten und all jene rauszuhalten, die sich zur Aufgabe gemacht haben, eine gesamtgesellschaftliche Kritik an der Bildungsmisere nicht außen vor zu lassen.

Dieser Bevormundung ist unser Politikverständnis entgegengesetzt. Es geht uns darum, ein selbstbestimmtes (und –bewusstes) Handeln zu entwickeln und unsere Forderungen, Argumente und Ausdrücke nicht schon im Vorhinein verwässern und zensieren zu lassen.

Es gilt zu hinterfragen, wie der Lehr- und Forschungsbetrieb hier an der Uni organisiert ist. Welchen Sinn und Zweck haben die Hochschulreformen in denen Bildung zu einer Ware umgestaltet wird? Welche Erwartungen werden alltäglich an uns herangetragen, um uns zu einer möglichst verwertungsgerechten Ausbildung zu zwingen? Die Bolognareformen können nicht verstanden werden, wenn die Zusammenhänge zu Reformen des Sozialwesens, zu der Funktion von Staat&Nation in dieser Gesellschaft oder zur umfassenden patriarchalen Ausbeutung nicht genannt werden dürfen. Wie unsere Kritik und unser Kampf aussehen soll, können wir nur auf der Grundlage einer gesamtgesellschaftlichen Analyse bestimmen.

Dabei müssen wir begreifen, dass die sogenannten Vertreter*innen, Politiker*innen und Medien keine unabhängigen, neutralen Instanzen sind, die es für unseren Kampf zu gewinnen gilt. Sie folgen der gleichen Strukturlogik in der gerade das System der Ausbeutung und Bevormundung aufrechterhalten wird, das wir in seiner Gänze ablehnen. So ist es nicht die Aufgabe des bürgerlichen Staates, Wohltätigkeiten für Studierende zu schaffen, sondern das Funktionieren des Arbeitsmarktes sicherzustellen. So ist das erklärte Ziel des Bologna-Prozesses die „Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems“. Vor diesem Hintergrund sind auch die Umstrukturierungen an den Hochschulen zu sehen: Studienzeitverkürzungen (6-Semester Bachelor), Kompetenzorientierung der Studiengänge, Studiengebühren ...

Was heißt selbstbestimmt Leben und Lernen? Selbstbestimmung im bürgerlichen Sinn ist nicht unser Ziel, es geht nicht bloß um einen individuellen Freiheitsgewinn, also um mehr Wahlmöglichkeiten (Individualisierungsoptionen) in den Modulkatalogen und beim Mensaessen. Vielmehr geht es darum, die gesellschaftlichen Organisationsformen und Strukturen emanzipatorisch zu verändern: Machen wir uns die Welt, wie sie uns gefällt. Und genau deshalb nennen wir unseren Kampf politisch.

Orte wie das besetzte VG sind notwendig als Kristallisationspunkte unseres Widerstands, an denen wir uns organisieren können. Wir dürfen aber nicht glauben, dass hier das selbstbestimmte Leben schon erkämpft wäre und von hieraus nur noch die Massen an Studierenden ‚erreicht’ und eingebunden werden müssten. Einen Luftballon nach dem anderen platzen zu lassen – ziellose Mobilisierung und ziellose Vollversammlungen- bringt nichts, sondern reproduziert nur die herrschende Ruhelosigkeit, in der wir uns ständig für Zwecke mobilisieren sollen, die nicht die unseren sind.

Organisiert euch in autonomen Basisgruppen!


1) Der AStA fällt somit allen Studierenden in den Rücken, die sich nicht davor scheuen, bestehende Konflikte mit den Autoritäten aufzunehmen .Anstatt auf den Forderungen und Ergebnissen der Proteste im Sommersemester aufzubauen, werden diese bewußt ignoriert.. Entsprechend speichelleckerisch dankt der ADF-AStA dem Unipräsidium für die ‚Gesprächsbereitschaft’. (vgl.: )

Erschienen am: 13.01.2010 AutorIn: email-address